der akustische fichte
1. lesen
das gibt es also auch, die geschichte einer stimme - man kann sie hören, wie sie sich über jahre hinweg entwickelt hat, zumindest bruchstückhaft. man kann sich fragen, wann was gekommen ist: das leicht affektierte, hamburgische, gut artikulierte, sanfte, fordernde, das kippende, kurz all die nuancen, die eine stimme ausmachen. was ist wann daraus verschwunden? was hat sich wann überlagert? ist alleine die jeweilige situation bestimmend oder ist tatsächlich eine art biographie hörbar aus den unterschiedlichen aufnahmen, die ich so zur verfügung habe: die „star club“-lesung vom 2.10. 1966, die „st.pauli-interviews“ aus dem jahr 1969, gesprächsmitschnitt vom juni 1979, und einige features vom ende der 70er bis anfang der 80er. immerhin eine zeitspanne von beinahe zwanzig jahren eines nur 51-jährigen lebens. professionell war diese stimme jedenfalls so ziemlich von anfang an. zumindest von dem ersten tondokument an, dem life-mitschnitt der legendären „star club“-lesung in eben jenem hamburger beat-club, dem ort, an dem sich die beatles formiert haben.
doch die legendäre „star club“-lesung gibt es ja mehrmals. zunächst mal als nummer 56 der philips twen-serie, heiß gesucht in sammlerkreisen, nicht so sehr wegen hubert fichte, so der popforscher johannes ullmaier, mehr wegen der beat-gruppe „ian and the zodiacs“, die mit fichte gemeinsam aufgetreten sind - die legendäre „star club“-lesung gibt es auch als „zeit“-artikel: „sie machten gemeinsame sache, sie dementierten das angebliche schisma zwischen der sub-, pop-kultur, die ihre kleidung und sprache und umgangsformen hat, und der seriösen, der höheren, der dunkel gekleideten „eigentlichen“ kultur... die diskrepanz schien fast ausgelöscht. der dichter fand zwanglos ein neues publikum.“(i) meinte dieter e.zimmer in der „zeit“, die damals noch mehr popkulturelle definitionsmacht gehabt haben muß - immerhin ist sie für fichte der auslöser gewesen, die „palette“(ii), seinen roman über das gleichnamige „szenelokal“ zu schreiben, zumindest habe ein zeit-artikel aus dem oktober 64 über jenes lokal den gedanken erzeugt: „sowas kannst du besser.“ und in der „zeit“ bestätigt dann auch ein ehemaliger palettianer die authentizität von fichtes „palette“. ja, fichte sei drei jahre lang in die palette gekommen und habe da mitgeschrieben, „was nur so aus uns heraussprudelte, ob erlebtes oder erfundenes, ganz egal...“.(iii)
die legendäre starclub-lesung aus der „palette“ kommt zunächst aber in der „palette“ selbst vor und wird darin zur sicherheit selbst schon mal legendär: „zweitausend menschen. auf st. pauli, die nie sonst ein buch in die hand nehmen.“ und: „ich stehe also vor euch und lese aus meinem buch. ... ich möchte auch mal die fünf beatles sein: - hier ist mein sound. ich steh vor euch. das mach ich.“ (iv) doch was ist da eigentlich wirklich passiert? vertrauen wir den dokumenten!
zum geschlechtsverkehr kommt es jedenfalls nicht, zumindest zu keinem auf dem life-mitschnitt hörbaren. es werden aber auch keine anderen geräusche produziert, die obszön wirken könnten, da wird höchstens laut gelacht. doch, was das betrifft, da scheiden sich schon wieder die geister. denn die legendäre „star club“-lesung hört man ja heute nicht alleine, man hört sie zu zweit, und das nimmt dann unterschiedliche wege: der eine hört mehr das hamburgische der stimme, der andere mehr den kinderschauspieler darin. zunächst hören wir beide aber „ian and the zodiacs“ „jäckideejack“ spielen, „ein großer hit damals“, so lothar, danach erst beginnt fichte aus dem anfang des buches zu lesen.
daß die zuhörer die ganze sache eher lustig finden, bringt mich auf den gedanken, sein publikum müßte szene-fremd sein, so obszön und fremd wirke das laut herausgelachte dem text gegenüber - aber nein, lothar ist sich sicher: „das sind die palettianer!“ und lacht selbst ein wenig windschief, was er auch darf, denn schließlich hat er die „palette“ 1968 bei ihrem erscheinen schon begeistert gelesen und habe ganze passagen auswendig können -
aber das unterschiedliche hören geht schon weiter, denn lothar hört nicht so wie ich die verve in fichtes stimme, das ein wenig zu angestrengte des vorlesenden in einem raum mit schlechter akustik, den man erst mal erobern muß. dieses etwas forciertere nehme ich als gegensatz zu seiner sprecherartigen stimme im feature wahr, das lothar noch nicht kennt, und das etwas monotonere, gleichbleibend dringlichere als gegensatz zu seiner stimme als redender. auch ist zu bemerken, wie die musik stärker präsent ist, sie kommt einfacher besser rüber. doch das publikum kümmert das nicht, es ist ganz ohr, als fichte das „paletten-abc“ liest, lacht über die slangausdrücke, lacht an seinem abc entlang - bei den wörtern für polizist, bei „senatscowboy, blauer“ klatschen alle, und er muß eine pause machen. selbst „dann würden die tunten immer noch ausgelacht, wenn sie beim regen im gebüsch stehen am dammtorbahnhof und sich gegenseitig die uhr aufziehen“ finden alle ultrakomisch, bei einem platzt das lachen richtiggehend heraus, und fichte muß wieder raum lassen für den applaus. das kann er gut, diesen dialogmoment mit dem publikum auskosten, das hätte ich dann doch gerne gesehen -
doch das unterschiedliche hören geht schon weiter, denn lothar erinnert sich: daß der starclub ein eigenes label gehabt und regelmäßig life-mitschnitte publiziert habe. jetzt haben sie die noch mal als cd rausgebracht(v), und in dem booklet sei zu lesen, was aus den leuten alles geworden ist. das finde er ganz schön eigentlich, aber die fichte-cd sei bei twen rausgekommen, einer zeitschrift, die jürgen möllemann, ja, der „ich mach’s jetzt nochmal!“-möllemann anfang der 80er jahre noch mal rauszubringen versucht habe. „das waren zeiten“, erzählt lothar, „da haben zeitschriften labels gehabt, sogar die hörzu hatte eines, das dann ne rolling stones platte rausgebracht hat, die jetzt heiß gesucht wird.“
- aber 2000 leute, das glaube er nicht, das wäre ja das doppelte metropol!
- andererseits - daß die „star club“-lesung eigentlich ein flop gewesen sei, das könne er sich nicht vorstellen: daß „es“ nicht funktioniert habe, und die ganze angelegenheit eine bloße promo-aktion von rowohlt gewesen sein soll. denn sowas gab es auch damals schon, ja, man glaubt es nur nicht in zeiten, in denen die werbeindustrie so tut, als würde sie alles zum ersten mal bewohnen. jedenfalls geschlossen zu dem zeitpunkt ihrer veröffentlichung: die reale „palette“.##
2. sprechen
das unterschiedliche hören funktioniert meist über differenz, d.h. es fällt einem auf, was einem fremd ist, ungewohnt, z.b. nehmen in deutschland alle meinen „österreichischen“ und in österreich meinen „deutschen“ akzent wahr, oder man stolpert über die spezifität eines wortschatzes, das zeittypische beispielsweise, wie semantische verstärker, die der sprechende fichte mit den worten: „unendlich“, „unheimlich“, „ungeheuerlich“ einsetzt. diese verstärkung aus einer negation heraus, meint lothar, sei sehr zeittypisch, ein produkt der 60er und 70er jahre, „hört man heute gar nicht mehr“.
zum unterschiedlichen hören braucht man aber gar nicht jemand zweiten, das kann man auch alleine, denn beim wiederholten hören ändert sich schon eine menge in der wahrnehmung. und wenn man dann seine eindrücke nicht notiert hat, geht einem viel verloren. trotzdem weiß ich, daß ich beim ersten hören von fichtes stimme - das war sein feature „gott ist ein mathematiker“ über afrikanische psychiatrie und kräuterheilkunst - nicht dachte: „kinderschauspieler!“ ich dachte mehr: „knochentrocken!“ und: „der liest ja nur!“ und war erstaunt. denn schließlich ist ein feature ja mehr als ein text, zumindest was anderes, da geht es doch um akustik, also auch um unterschiedliche sounds, d.h. geräusche, klänge, töne, alle art von stimmen, interferenzen, überlagerungen, technische filter. ein feature, das ist doch eine collage, das sind abgemischte o-töne, jedenfalls eine barocke akustik und nicht nur eine barocke musikeinspielung. und das ist es aber: monteverdi zwischen knochentrockenem text - das kann nur aus den urzeiten des hörspiels stammen, ist zu vermuten, doch „gott ist ein mathematiker“ ist anfang der 80er jahre entstanden, wie das booklet der cd verrät, die 2000 bei dem kölner label supposé(vi) erschienenen ist. das booklet verrät aber auch, daß hubert fichte nicht nur eine stimme war, er war auch ein bild, besonders, wenn die fotografin leonore mau ihn fotografiert hat, mit der er die meisten reisen gemeinsam unternahm. wie gestochen sieht er aus, beinahe eine ikone. ja, ein bißchen fotoromanze liegt da in der luft!
und doch äußert er so was wie eifersucht auf das medium der fotografie in seiner „geschichte der empfindlichkeit“(vii), ja, es zeigt sich überhaupt ein gespanntes verhältnis zu den versuchen audiovisueller medien, sich der literatur zu bemächtigen. und so finden sich in dem gespräch von 1979 abfällige bemerkungen über die durchs fernsehen laufenden autoren, heftig abwehrende gesten, wie in folgender bemerkung fichtes:
- wir haben ja eine ungeheure äh äh lesefeindliche epoche. es wurden nie soviele bücher produziert, noch nie so viele bücher gekauft wie im augenblick. trotzdem glaube ich, daß - die medien, alle medien arbeiten eigentlich aus lesefeindlichkeit heraus für lesefeindliche äh - hörer, leser, zuschauer ...
man kann sich der mühe nicht entziehen, wenn man es mit literatur zu tun hat und das muß man auch in aller größter härte sagen, diese texte leider zu lesen ... man kann literatur nicht in ein lutschbonbon in irgendetwas, was ich ... ich weiß nicht, etwas schickes verwandeln, was alle unsere medien tun....es ist sicher amüsanter ... vorgelesen bekommen. aber das hat mit literatur nichts zu tun. ... literatur sind buchstaben und nachdenken...“
und genauso hört sich das feature dann an, wie „buchstaben auf’m papier“ - erstaunlich, wenn man an all die o-töne denkt, die sich in seinen texten wiederfinden, die ganze mündlichkeit darin, und zudem wie er über audiovisuelle medien schreibt, über filmschnitt, takes und stroboskop-effekte, dem verhältnis von medientechniken und geschichte, auch die eigene medialität in seinen texten reflektiert, aber in seiner radioarbeit das dann nicht umsetzt. sozusagen nicht genuin arbeitet sondern medienfremd. aber das sind ja zwei paar schuhe, kann man dann am telefon erfahren, wie man am telefon überhaupt so einiges erfahren kann zu fichtes ästhetik.
3. forschen
ja, man könnte telefonieren, habe ich mir wohl gesagt, und eigentlich hätte ich gerne direkt mit fichte gesprochen, doch ihn bekommt man ja nicht an den apparat, wen ich aber an den apparat bekomme, ist merleau-ponty, d.h. merleau-ponty, wie ihn karin gerade liest, den merleau-ponty von „das mittelbare sprechen und die stimmen des schweigens“, der nicht von medien, sondern von unterschiedlichen weisen der körperlichen entäußerung, der interaktion mit der welt und den anderen spricht.
- wunderbar, unterbreche ich karin, das paßt ja genau zu fichtes ästhetik, wenn er literatur in ihrer theatralität und in ihrem kommunikativen rahmen wahrnimmt - naja, meint sie, merleau-ponty spricht erstmal von sprache im allgemeinen, eben eine bestimmte weise der interaktion, die tradiert ist, d.h. man betritt beim sprechen einen bereich, den man nicht in der hand hat, der einen übersteigt. und so hört sich das am telefon an: „ein sprachlicher ausdruck steht immer vor dem hintergrund anderer sprachlicher ausdrücke, und ist immer nur eine falte im unermesslichen gewebe des sprechens.“(viii) ich bin beeindruckt.
- also kein unmittelbares sprechen?
- ja, das sprechende subjekt drückt sich nicht aus, ein bewußtsein bedeutet immer entäußerung.
- und: es gibt keine authentizität, die durch das sprechen verloren gehen würde.
- also: immer schon inszenierung?
- und: intersubjektiv - kreuzung der sprachlicher gesten.
- eine geste macht man nicht allein.
- sag ich ja.
literatur nun reproduziere die sprache als sprache, führt karin fort, und da gibt es bestimmte strategien, sagt sie und verläßt ein wenig merleau-ponty. „zum beispiel“ die sache mit der mündlichkeit in der schrift: „man glaubt, es mit unmittelbarkeit, nähe und authentischem zu tun zu haben, dabei erlebt man nur effekte, die durch einen hochartifziellen prozeß erzeugt sind mittels sprachlicher strategien.“ - „und wie sehen die aus?“
- na, das dialektale wäre die billigste variante, das umgangssprachliche nachzumachen, sprachverschleifungen...
- das pointenhafte, kurze, der sprachwitz, die schnelligkeit der dialoge...
- oder das verweigern der bündelung einer sprachfigur, das offene!
- das spiel mit dem zufall. evozieren von beiläufigkeit...
- wahrscheinlich gibt es auch eine eigene tradition des mündlichen im schriftlichen.
- wo man doch sonst nur von schriftliche traditionen spricht.
- obwohl in der mündlichkeit auch das gefühl von aktualität, von momenthaftigkeit erzeugt.
- aber hallo.
trotzdem mußte auch fichte erstmal zuhören und mitschreiben, bevor er loslegen kann mit seiner mündlichkeit im text. drei jahre, wenn es sein muß, wie in der „palette“, um einen ort zu kennen, um die gesten, rituale, inszenierungen zu verstehen. das gehört zu seinen üblichen tätigkeiten, zu seinem selbstverständnis als autor: die übertragungen sprachlicher äußerungen vom akustischen in den schriftlichen bereich und umgekehrt: transkribieren und vorlesen beispielsweise oder interviews machen, nachdem man schriftlich fragen formuliert hat. kurz: schnittstellen zwischen mündlichkeit und schriftlichkeit auszuloten auf dem feld der literatur. und das nicht nur am schneidetisch, sondern mittels langjähriger einsatz: der autor bewegt sich in die szene hinein, die er portraitiert. und wenn er interviews macht, werden sich mit der zeit seine fragen ändern, die art und weise, wie er auf diese leute zugeht wird sich ändern. er wird wissen, worauf es ankommt, und manches aus dem blick verlieren. und nicht nur die szene, auch er wird sich durch diesen vorgang verändern. es entsteht ethnologie als entwicklungsroman.
4. fragen
fichte beim befragen kann man erleben auf den „st.pauli interviews“(ix), die ebenfalls im letzten jahr bei supposé herausgekommen sind, dem kölner label vom „kleinen griechenmarkt“, das auch die stimmen ciorans, von försters, flussers oder theweleits als ansprachen, reden, gespräche publiziert. die „st.pauli interviews“ sind hubert fichtes interviews mit mitarbeitern und mitarbeiterinnen des palais d’amour, welche in printform 1972 bei rowohlt erschienen sind(x), nachdem sie bei wdr und ndr gesendet wurden. hier gibt es keinen text, der zuerst geschrieben, dann akustisch umgesetzt wird. hier ist man von anfang an akustisch, und inszeniert das dann nicht nach. nachgemachte gespräche findet man erst am ende als track fünf, aber noch bin ich am anfang und einfach nur erstaunt, wie schnell fichte das macht, wie er die fragen immer weiß, immer lückenlos weiterfragen kann, in angemessen eindringlichem tonfall, kaum merkbar insistierend. und es menschen gibt wie ulli, wolli, sandra und johnny, die lückenlos zu antworten wissen. da entsteht kein stottern und stolpern, kein gestammel, sich unterbrechen, peinliches verstummen, höchstens ein mißverständnis, das sofort wieder von fichte aufgefangen wird. und dabei wurde kaum geschnitten, was man hören würde, dazu sind zuviele hintergrundgeräusche da. es sind gespräche wie beruhigte pingpong-spiele über moralische vorstellungen, geschäfts- aber auch lektüreerfahrungen, so glatt verlaufend, daß man das gefühl hat, es wurde geprobt. zumindest sind seine gesprächspartner von den fragen nicht überrascht, und haben ihm vielleicht schon oft darauf geantwortet, möglicherweise in denselben räumen, von denen man eine idee bekommt durch das ticken einer uhr, durch rauschen, durch ein glockenspiel oder plötzliche musik von „draußen“ oder musik „drinnen“, bargeräusche, telefonklingeln und gläser klingen. jemand schenkt aus. mit sicherheit basieren die gespräche auf wiederholtem fragen, vorfragen, zwischenfragen, die erst den fragekatalog entstehen ließen, der möglicherweise auch schriftlich vorlag, aber absolut kein proustscher war.
der proustsche taucht erst bei track fünf auf, wenn sie aus der transkription der interviews vorlesen, fichte und wolli - ja, wolli liest mit. das ist dann quasi doppelt gemoppelt: das dokumentarische wird zum literarischen im produktionsprozeß, und das literarische wird wieder aufgeladen mit dokumentarischer authentizität durch die art der performance. doch, so zumindest mein eindruck, wolli liest besser, d.h. authentischer, denn fichte sitzt ein wenig in seiner sprecherstimme, seiner vorlesestimme drin, als wäre er nicht ganz in der gesprächssituation, sondern schon mehr im literarischen text. fichte und wolli also lesen die stelle, in der fichte wolli die fragen stellt, die man schon proust im proustschen fragebogen gestellt hat, als er noch kein proustscher fragebogen war - und fichte liest prousts antworten, und wolli wollis, und so wiederholt man die befragungssituation in mehrfacher hinsicht.
einen „virtuellen schriftsteller“ habe fichte in wolli als gegenüber gehabt, so hans mayer in seinem text über die „interviews im palais d’amour“(xi): er habe im gegensatz zu den andern befragten einen produktiven widerstand zu fichtes methode der befragung gesetzt. zu hören ist wirklich, wie er die fragen oftmals nicht„versteht“, oder sie kommentiert, zurückfragt, und neins in rascher folge setzt, die man als etwas abwimmelndes interpretieren könnte. das macht aber auch sandra, die in der art und weise, wie sie spricht, sich doch etwas distanzierter verhält, zickig könnte man sagen, gar nicht so, wie hans mayer schreibt - als würde sie die situation allein als eine „angenehme form der öffentlichkeit“ empfinden.
daß der widerstand gegen die befragung nicht stärker ausfiel, liegt sicher an den investitionen fichtes, monetärer und anderer art: am vermögen zu warten, am wiederkommen, der fähigkeit, abfuhren erhalten zu können, nochmals hingehen, neu ansetzen, einladen, insistieren. wir verhalten uns heute ja eher so, als wäre jede information sofort erhältlich, die vorstellung von geheimwissen in ganz profanem sinn ist nicht mehr vorhanden. gerade auf sexuellem gebiet wird ständig nur noch durchgerufen und nach einem statement zu diesem und jenem thema verlangt, und der befragte macht mit, als hätte er ein interesse, etwas auf diese weise bekanntzugeben. wahrscheinlich aber unterliegen wir heute wirklich ganz dem foucaultschen sprechzwang, alles bekanntzugeben, wenn es um sexualität geht, ständig auszuplaudern. angeblich machen das jetzt schon schüler und schülerinnen - was man so hört von schreibwerkstätten in schulen: daß die ihre sexuellen wünsche in anwesenheit des anderen geschlechts, in anwesenheit des lehrpersonals bekannt gäben, ohne dem gefühl einer eigenen obszönität ausgeliefert zu sein. obszön kommt einem heute höchstens das „vulgär-politische“ verlangen der lehrer von 1979 vor.
5. gefragt werden
nur aneinander vorbeireden können sie ja nicht, denkt man sich anfangs, und behält doch unrecht. man muß doch mal in kontakt treten, heißt das doch kontakt-studium, was sich im juni 1979 in calw als begegnung von hubert fichte mit lehrern und lehrerinnen abgespielt hat. ein mißverständnis alleine das schon, ist am ende zu erfahren, als fichte darum bittet, den begriff „kontaktstudium“ übersetzt zu bekommen, denn den würde er nicht mehr verstehen, „so nach dem gespräch“, möchte man hinzufügen, aber das gehört zu den spekulationen, die man beim transkribieren automatisch unternimmt. aber es habe nichts mit kontakt im kommunikativen sinn zu tun, das ist „was technisches“, verstehe ich vor lauter knacken und rauschen kaum die antwort des lehrers am band, und das alleine blieb es dann auch.
in den siebzigern wurde es wohl unter lehrern üblich, medientechniken anzuwenden, bzw. dinge aufzunehmen, technisch abrufbar zu machen. entstanden sind dann total verrauschte raumaufnahmen voller knistern, knacken mit gar keiner aussteuerung. und wie hört sich ein raum voller lehrer 1979 an?
es ist zu hören: husten, klatschen, stühlerücken, wischen, klappern, lachen.
es ist zu hören, wie es schwierig ist mit den lehrern, wie der erfahrungshintergrund der schule immer wieder auf fichte prallt, neben dem andersartigem aufeinanderprallen der leicht betulich-schwäbischen oder badischen sprechweisen der lehrer, und dem leicht hamburgischen, leicht - sehr leicht- gekünstelten, wohlartikulierten sprechens von fichte. nach einer weile sitzt man ja in einer stimme drin. man hat sich eingewohnt sozusagen und versteht langsam mehr, es wird mit der zeit einfacher, semantik aus dem rauschen zu holen. durchs transkribieren bekommt man auf materiale weise mit, was geredet wird und wie mündliches denken funktioniert. man erfährt es als dialogisches denken, das aus gemeinsam und gegeneinander entwickelten gedankengängen entsteht. man bekommt mit, wie seine struktur aussieht, die mündliche syntax mit all ihren einschüben, unterbrechungen, ellipsen, parataxen, den verstärkern, füllseln, die im schriftlichen nicht gebräuchlich sind. und die spezifität des wortschatzes einer jeden person. die spezifischen inszenierungsformen. ja, es ist zu hören wie der ehemalige kinderschauspieler auch die freie rede beherrscht, wie er gezielt pausen setzt, die stimme hebt: „der homosexuelle hat ...noch... größere schwierigkeiten dabei -“ beschleunigt, lauter wird oder langsamer, und damit aufmerksamkeit erzeugt, selbst bei einer scheinbaren verschluderung des satzes. die modulationen, akzentuierungen lassen diese freie rede als inszenierung erscheinen, besonders in jenen momenten, in denen fichte zitiert, sich plötzlich einen anderen sprachgestus gibt.
doch zu hören ist auch, wie alles ein wenig zerfasert, die lehrer ohne rechte rhetorik dastehen. und wie der zeitkolorit am band sitzt und nicht runterkommt von ihm. und die ins vorurteil abhauenden lehrer, die sind zu hören! ja, sie ist auch akustisch zu haben, diese berufskrankheit der lehrer: die ängstlichkeit vor den schülern im plural. immer den konsens suchend. das können sie heute wahrscheinlich auch noch gut, dieses ständige fürchten, daß das jemand nicht verstehen könnte. und was man nicht versteht, darf nicht sein. das ist falsch. sie sagen:
- man wisse nicht, ob man fragen dürfe -
- dem leser würde eine große arbeit aufgebürdet, denn fichte beobachte „das“ von außen, aber „das wichtige“ passiere eigentlich innen drinnen im menschen, und der leser müsse „ständig das irgendwie“ in seiner vorstellung ergänzen.
- man bezweifle, daß der leser die vorstellungen, „die anscheinend in ihrem kopf vorgegangen sind“ auf seite 47 vermittelt bekomme.
- auch fehlten verbindungssstücke: „da ist kein zusammenhang gegeben“.
- für welchen leserkreis er schreiben würde?
- man nehme ihm das nicht ab, daß er sich für seine leser nicht interessiere.
- und warum er dann schreibe?
- man würde trotzdem unterstellen, daß er sich auf eine masche „ziemlich“ eingrenzen lasse: „sie kriegen scheinbar nicht in einen verlag rein, was irgendeine aussage, politisches beinhaltet.“
- man unterstellt, daß fichte unpolitisch sei. denn die politische aussage liege nur in der beschreibung, es würden aber keine forderungen gestellt, „was ja auch eine möglichkeit wäre, literatur zu verfassen.“
- auch das kapitel mit der atomkraft wirke „eher ganz desillusionierend“.
- man wolle ihn nicht langweilen, aber „aus der sicht der frau“
- und ob er als homosexueller das buch geschrieben habe?
- man bezweifle, daß mit seinem buch „das vorurteil von den homosexuellen weggenommen“ werde, weil er „bestimmt ganz wenige leute“ habe, „die sich wirklich intensiv damit auseinandersetzen.“
- man sei sich „immer“ in der schülersituation vorgekommen, d.h. man habe alles mögliche unternommen, nur, um ihn nicht lesen zu müssen, was zur folge hatte, daß man - also: „ich konnte mit dem buch nichts anfangen“
- man fühle sich durch „tausend stellen“, denen man nicht gewachsen ist, in seinem identifikationsprozeß mit der hauptfigur behindert.
- „da fällt so viel durch bei mir als leser.“
- man habe stendal und kleist und proust nicht parat und könne mit den stellen nichts anfangen, wo diese zitiert würden.
- „sie zitieren die einen autoren, andere autoren zitieren andere, dann müßt ma alle kennen.“
- er schreibe für einen exklusiven lesekreis, für ein ganz bestimmtes klientel: „für den normalbürger gar nicht erreichbar.“
- vielleicht sei das vorurteil zustande gekommen, daß man ihn für „reichlich arrogant“ befunden habe, „vielleicht kam da die schwierigkeit zustande“
- man habe das buch angefangen zu lesen und wurde richtig aggressiv. „bis seite 50 war ich wirklich aggressiv.“
- und: „wenn ich ein schüler gewesen wäre, hätte ich das buch glaube ich nicht zu ende gelesen. ich hätte den unterricht über mich ergehen lassen“
so lautet der schwierigkeitskatalog der lehrer. sie sind verärgert, wenn einer mit zitaten kommt, die sie nicht kennen, und auch das ist zeitkolorit: die dinge, die man nicht zu kennen braucht. 1979 waren es eben stendal, kleist, proust. zu hören ist, wie die lehrer sich recht sicher sind in ihrer irritation, in ihren vorstellungen von verständlichkeit. doch selbst die ehrlichkeit der lehrerin, die sich gegen ende zu ihrer wut bekennt, die fichtes literatur bei ihr auslöst, zu der ich mich mühsam durchtranskribiert habe vorbei an abstrakten schüler-leser-konstruktionen, selbst diese ehrlichkeit kann einem gegenseitigen verständnis nicht wirklich helfen. nein, eine konsensmaschine ist es nicht, das gespräch.
fichte sagte am ersten tag sätze wie: „ich finde, literatur biedert sich zu sehr an“, „also, ich möchte hier sagen, ich hab überhaupt keine lust, hier den engagierten liebenswürdigen autor, den aufstrebenden autor zu spielen“- „ich halte das problem der homosexualität für ein hochpolitisches“, „ich halte die palette für ein hochengagiertes buch...aber in den partikeln des engagements engagement-los“. „ich finde es sehr gefährlich, wenn wir anfangen, veranlagungen als voraussetzungen für bücherverständnis zu setzen. und ich finde es in hohem maße diskriminierend.“, „ich habe zehn jahre lang landwirtschaft gemacht.“ „sie sollten kleist und stendal kennen.“, „ich glaube, man kann über literatur nicht reden, wenn“ und: „wenn sie ein buch aufschlagen, können sie doch annehmen erstmal, daß der schriftsteller sich bemüht hat“, sowie: „dieser ensetzliche dilettantismus, entsetzliche schleim, diese absolut antiaufklärerische tendenz, die sich in diesem land breitmacht“, sagt fichte am ersten tag, am zweiten tag vergibt er namen.
7. inszenieren
fichte tauft die lehrer schnell. er denkt sich eben namen für sie aus, benennt sie und weist ihnen rollen zu. er gibt ihnen so komische namen wie bruno, jürgen, hella, adalbert, susi. und sagt ihnen: „wer jetzt nicht still ist, wird ins klassenbuch eingeschrieben!“ bruno, jürgen, hella, adalbert und susi sind zunächst erstaunt, wehren sich dann auf lehrerart: „jetzt müssen wir ihre utopie mal verlassen - wenn sie vor einer neunten klasse stehen...“ was fichte ihnen nicht durchgehen läßt: „du bist ja gar nicht dran, bruno.“ die lehrer und lehrerinnen sind zunächst erstaunt, zu was sie da mutieren, wie sie da plötzlich in rollen drin sind. und zwar andere rollen als sonst, wird ihnen bewußt, so wie sie lachen. fichte lacht nicht mit. er beteiligt sich an ihrer unsicherheit nicht. er hält seinen part durch.
er vergibt namen. er sagt: „aber sieh mal bruno, du bist jetzt hier in der neunten klasse, und wir müssen uns überlegen, ob wir dich in die zehnte übernehmen“. und: „jürgen...“ (alles lacht), „laß jürgen ausreden, hella!“ (alles lacht nochmal.) das können sie, die lehrer, mehrmals lachen. sie finden es komisch, ist zu hören, was ihnen geschieht. und man ist doch nur dabei, ein gedicht von hoffmannswaldau zu interpretieren, und beim close reading die unterschiedlichen lesevorgänge zu erkennen. und die lehrer lachen immer noch. sie lachen immer noch, wenn er sagt: „hans-peter, daaaas weißt du noch nicht. äh, ich werde mit eurem biologielehrer mal sprechen, daß er euch über die hormonellen vorgänge beim geschlechtsverkehr unterrichtet.“
und: „susi, du bist doch in der lage, daß du in vierzehn tagen darüber eine abschlußarbeit, einen aufsatz schreiben mußt. ich bin oft der meinung, daß ein gedicht in fünf minuten auf uns einen großen zauber ausübt und wir den nicht zerstören sollten. nun sind wir hier gezwungen, durch die art unseres zusammenseins und durch die art des berufes, den du einmal ausüben wirst, zu überlegen, wie vermittle ich literatur.“
„und susi! du wirst dir in deinem leben nicht abgewöhnen können, dinge, die auf dich sinnlich zukommen, analytisch zu erfassen. und das wird möglicherweise das problem sein, mit dem du dich in den nächsten jahren bis du zum studium kommst und deinen beruf ausübst, befassen wirst.“ mit diesem futur müssen die lehrer und lehrerinnen dann zurechtkommen.
nochmals hätte ich gerne mir fichte gesprochen, doch er spricht noch immer nicht mit mir, er vergibt immer noch namen. er wiederholt sich. aber das ist das band, da ist nichts zu machen, man muß sich eben an das halten, was man kriegt. obwohl - mit irgendeiner radio -zeremonie könnte man ihn sicher an den apparat bekommen, könnte man ihn irgendwie als eine ansammlung spezifischer, im äther befindlicher geräusche angeln, denn soviel steht ja fest, jeder satz, den man sagt, kreist auf ewig als schallwelle durchs all. also muß der komplette fichte noch rund um uns sein. so praktisch.
die bänder von 1979 und das foto von fichte stammen von hartwig behr, dem ich dafür danken möchte.
weiteren dank an karin krauthausen, klaus sander, johannes ullmaier und lothar wildhirt
dieser text erschien in: spector cut+paste, juni 2002 (www.spectormag.net) und in der neuen rundschau 4/2001
(i) zit. nach: Protest! Literatur um 1968. Hg. von Ott, Ulrich und Friedrich Pfäfflin. Marbacher Kataloge 58. 2. korr. Aufl.
Marbach am Neckar: Deutsche Schillergesellschaft, 2000, S.256.
(ii) Fichte, Hubert. Die Palette.
Reinbek: Rowohlt, 1968.
Neuausgabe: Frankfurt a.M.: S.Fischer, 1978.
(iii) a.a.o., Protest! Literatur um 1968…, S. 253.
(iv) ebd., Kapitel 76, S.329-336.
(v) Star-Club-Records sind bei Polygramm im Vertrieb.
(vi) www.suppose.de
(vii) die „geschichte der empfindlichkeit“ war fichtes auf 19 bände angelegtes literarisches projekt, an dem er seit den 70ern arbeitete und das er auf grund seines frühen todes nicht fertig stellen konnte. 16 bände sind bisher im s.fischer verlag erschienen.
(viii) Merleau-Ponty,... Das mittelbare Sprechen und die Stimmen des Schweigens. In: Merleqau-Ponty. .... S. ...
(ix) erschienen 2000 bei supposé.
(x) Fichte, Hubert. Interviews aus dem Palais d’amour.
Reinbek. Rowohlt, 1972.
(xi) in: Text+Kritik, Heft 72. Hg. von Heinz Ludwig Arnold. Göttingen: edition text+kritik, 1981, S.62-66.