Zürich 2016 (2)
Von Zwischenmenschen, Zeugen und wiedererkannten Helden
Jeder Briefschreiber weiß heute immer noch, dass, mit dem Wörtchen „ich“ zu beginnen, höchst unvorteilhaft, ja nahezu unmoralisch ist. Doch rund um die Briefschreiber ist dieses Wissen dramatisch weggebrochen, ja nahezu in Vergessenheit geraten. Viele legen in der öffentlichen und nicht so öffentlichen Rede mit diesem „ich“ los, als wäre es nahezu geboten, schließlich dreht sich heute alles um den richtigen Auftritt, die Selbst-Performance, den Verkauf des eigenen Egos. Das Marketing-Ich erfordert seine Platzierung, wann immer möglich, erstaunlich, dass es noch keine Trademark geworden ist.
Die Podiumsteilnehmer unter den öffentlich Auftretenden biegen allerdings gleich nach diesem Wörtchen ab und schließen daran gleich ein „ich als“ an. „Ich als lesbische Türkin“, sagen sie, „ich als biodeutscher Katholik“ oder „ich als körperlich geforderter Herthafan“. Das „ich“ dient dann der Sprechlegitimation, es wird so verortet in einer identitären Behauptung, bestenfalls in einem Erfahrungshintergrund, so dass es sozusagen sofort wieder verschwindet. Seine Funktion geht darin auf, jemand zu sein, und nicht etwa, sich zu bewegen oder etwas zu tun. Es hat sich zudem weit von dem Pathos eines Hubert Fichte entfernt, jenem Hamburger Schriftsteller, der für seinen Ehrlichkeitsfuror und vor allem Selbstbeobachtungsgestus, seine pubertätsritenartigen Selbst-Demontagen bekannt ist.
Wir beobachten uns auch nicht mehr selbst, wenn dann monitoren, evaluieren, schätzen wir uns ein, aber im Moment des Sprechens benötigen wir eine Legitimation, und da zählt anscheinend heute weniger das Argument, sondern mehr die Identität.
Warum dieser inflationäre Gebrauch einmal in Zeiten des Briefschreibens verpönt war, hatte auch mit der Kommunikationsform des Briefs zu tun, sie sieht ganz einfach noch irgendwo das „du“ vor, es soll angesprochen, miteinbezogen werden, und das mehr als nur noch rein rhetorisch. Die Podiumsteilnehmer kennen das „du“ nur rein funktional. Es dient der Selbstdarstellung. Wir sind alle ein wenig wie der Schauspieler Klaus Kinski geworden, der immer wieder, beispielsweise durch den Fernsehstörer Hajo Hoffmann in der legendär gewordenen Talkshow „Je später der Abend“ von 1972, erst ein fiktives und verbal unverständliches Gegenüber benötigte, einen Zwischenrufer, an dem entlang er zur Großform auflaufen konnte. Kinski fiktionalisierte dabei dieses Gegenüber, um es im nächsten Moment gleich schon wieder zu verlassen. Das Gegenüber ist heute sicher mehr Abstoßungsmoment für den Sprecher in der Talkshow als Gesprächspartner. Diese Podiums- und Talkshowkommunikationsform ergreift auch andere Alltagsmomente, wir stellen uns oft genug eher im Sprechen dar, als dass wir miteinander reden. Wir?, sollte sofort nachgefragt werden, denn dieses Adressaten-„wir“ der öffentlichen Rede ist ja ebenfalls verdammt fragwürdig, und es ist nicht leicht, überhaupt ihre klassische kommunikative Aufspannung zu reproduzieren: Vorne steht ein „ich“, das ein „wir“ addressiert, und in diesem Fall ist das „ich“ eine Schriftstellerin, die moralisch für diesen Vorgang geeignet scheint, was zu bezweifeln Sie jeden Anlass haben dürften.
Das „wir“ wäre in diesem Zusammenhang zunächst einmal das situationsabhängige zufällige Kollektiv, das sich an alles andocken lässt, so imaginär und bröckelig es auch ist: in Deutschland das Deutschland-AG-„wir“, in der Schweiz das Schweizer „wir“, das restbürgerliche „wir“, das Theater-„wir“, das Wir-schaffen-das-„wir“, zerstiebt so schnell wie das „ich“ Positionen wechseln kann. Es hat nichts mehr mit Klassenzugehörigkeit, Generationszugehörigkeit zu tun, kein gemeinsamer Erfahrungshintergrund stellt es dar, es scheint so, als wäre das Kollektiv das Komplementärbild des identitären Konzepts von Individuen, könnte nur aus ihnen entstehen.
Und doch ist die Welt in Gruppen organisiert, auch wenn diese unter einem politischen Repräsentationsdefizit leiden. Von den Arbeitsmeetings, den Hearings, den Konferenzen, den sportlichen Kollektiven, Schulungs- und Übungszusammenhängen geht es hinein bis in die Gruppensitzungen der Anonymen Alkoholiker. In meinem von David-Foster-Wallace-Lektüre durchtränkten Sommer erkannte ich nicht nur, dass Kollektive durchaus Tennisakademien, Revolutionskollektive, Suchtheime und Arbeitsmeetings des Präsidenten unserer Welt darstellen können, sondern auch, dass einzig die AA-Gruppen, vor allem die aus Boston, dieses Prinzip des Egos durchkreuzen wollen. Denn sie dulden keine Performance, sondern fordern die echte und beinahe doch religiöse Ehrlichkeit des Sprechers, deren Erscheinen natürlich selbstredend ein wenig der Inszenierung bedarf. In „Infinite Jest“ nutzte David Foster Wallace die Ich-Form sehr zögerlich, sehr unübersichtlich. Immer wieder gibt es Passagen, die aus der ersten Person Singular erzählt sind, sie kommen unvermittelt und erklären sich nicht, man ahnt nur, wer dieses „ich“ sein könnte, und verschwinden dann wieder für lange Zeit.
Für Hubert Fichte war es einige Jahrzehnte zuvor hingegen ein langer Weg zum „ich“, über mehrere Bücher, und dann ein obsessives Bekenntnis dazu:
„ – Ich, sage ich, würde nie ein Buch in der ersten Person Singular schreiben.
Im Ich sitzt man in einem Drehstuhl und sieht auf eine überwundene Zeit.
Mit dem Ich kommt alles auf mich zu und verschließt sich mir und geht weg und wird zur Vergangenheit.“ (Versuch über die Pubertät, S. 36)
und:
„Ich – die weiße Zeit, die so schnell ausverkauft ist.
Nicht mehr die schwarze Zeit der Gegenwärtigkeit selbst.
Ich: aufgeklärt, unmagisch, verlogen.
Ich – wie plump!
– Dann wirst du eben diese Plumpheit riskieren müssen (...).“ (S. 37)
Dieses risikoreiche Unternehmen nahm seinen Weg über die Alter-Ego-Figuren Jäcki und Detlev, bis es in der ersten Person Singular landen durfte, Fichtes Entscheidung dazu hatte noch Gewicht. Heute ist der umgekehrte Weg der schwierige, risikoreiche. Für mich brauchte es zahlreiche Bücher, um in eine Fiktion hineinzufinden, und es fühlt sich ebenso merkwürdig plump an. Die Fiktion hat sozusagen alle Unschuld verloren, die sie vermutlich nie besessen hat. Sie erscheint heute nur anmaßender. Wen darf man, kann man noch darstellen, das ist ja eine hegemoniale, eine Machtfrage. Welche Fiktionen sind überhaupt noch zu entwerfen? Darf ich als türkische und lesbische Schriftstellerin nur über türkische und lesbische Schriftstellerinnen schreiben? Über die Tyrannen darf man immer schreiben, das wusste auch schon Hubert Fichte, solange man denn darf. Aber zeigen die sich immer? Was, wenn sie sich als Opfer einer Situation darstellen, wie es gegenwärtig nicht nur Rechtspopulisten, sondern auch Diktatoren wie Erdogan oder Assad tun?
Und: Bleibt darüber hinaus die Anmaßung der Weltbehauptung tatsächlich nur den PR-Firmen vorbehalten, den politischen Strategen, die am großen Narrativ weben?
Mir war es jedenfalls immer suspekt, und so habe ich das Wörtchen „ich“ eine ganze Weile durchdekliniert, von „Abrauschen“ über „really ground zero“ zu „wir schlafen nicht“ und „die alarmbereiten“, wo es schon merkwürdig entrückt, phantasiert, ja geradezu phantasmatisch auftritt, bis ich es erst bei meinem letzten Buch „Nachtsendung“ so ziemlich in der Mitte versenken konnte. In der Erzählung „Normalverdiener“ durfte es an zentraler Stelle untergehen, umgeben von bösartigen, unheimlichen Fiktionen, ein Gespenst, das zurücktritt in den Schatten der eigenen Erzählungen. Und wer weiß, wohin ich mich jetzt aufmache? Sicherlich noch einen Schritt weiter weg von jenem „ich“, das den gouvernementalen Konstruktionen unserer Zeit unterliegt und zu einem managerialen, aktivierten, dynamischen, selbstorganisierenden geworden ist, das sich aber selbst bezeugen, authentifizieren muss, um zu existieren.
Auch auf einer anderen Ebene ist mir das „ich“ unangenehm geworden. Denn es verbindet sich ebenfalls mit der Frage nach der Zeugenschaft, es dient dem Akt der Bezeugung, der derzeit eine sehr gesuchte ästhetische Figur abgibt, zumindest im Theater. Der Dramaturg und Theatertheoretiker Frank Raddatz schrieb im letzten „Lettre“ in seinem Essay „Das mimetische Dilemma“ von diesem postdramatischen Wechsel vom amoralischen Schauspieler hin zum Zeugen auf der Bühne, der einer Akzentverschiebung entspreche, die das zoon politikon zum bios, dem „bloße(n) biologische(n) Leben und dessen zufällige(m) In-der-Welt-Sein“ verwandle. Denn die „Experten des Alltags“ von Rimini Protokoll sprechen nur für sich, sie sind festgezurrt an der Zeugenschaft ihrer Existenz. Sie können sozusagen nur noch sich selbst repräsentieren. In einem Gespräch von Frank Raddatz mit dem Leiter der renommierten Ernst-Busch-Schule, Wolfgang Engler, wird zudem das Ausmaß einer Verrechtlichung des Theaterdiskurses klar, die aus dieser Form des Repräsentationsdenkens entsteht. So geht es bei der Besetzung eines Stückes, der Auswahl der Schauspielerinnen, dann nicht mehr um formale Fragen, sondern darum, wer aufgrund seiner Lebenserfahrung und seiner Person am ehesten geeignet ist, jemanden darzustellen. Und einmal erwählt, wird er sich immer an der Spekulation messen lassen müssen, ob es nicht doch einen geeigneteren Schauspieler, eine geeignetere Schauspielerin gibt, die das darstellen könnte, nein, am Besten, kein Schauspieler, sondern man lässt doch gleich die Person sich selbst spielen. Die spricht dann logischerweise auch keinen Text im engeren Sinn. Der Text als Form muss notgedrungen verschwinden in jenem auf Zeugen und echten Figuren basierten Stücken. Die formlose Sprache kann allerdings kein Speicher mehr sein von gesellschaftlicher Erfahrung, sondern banales Anhängsel jenes von Raddatz zitierten „bloßem In-der-Welt-Seins.“
Und mit der Frage der Zeugenschaft tritt die nach der Wahrhaftigkeit, der Authentizität, jener bürgerlichen Sehnsuchtsfigur, die mich immer wieder beschäftigt hat, ins Zentrum der Diskussion. Denn was tun wir, wenn wir uns heute in Gesprächssituationen mit der Wortkombination „ich als“ legitimieren, uns durch eine Behauptung des Essentiellen in Position bringen, die uns eine Rede erlaubt? Nicht nur beglaubigen wir unsere echte Existenz, wir verlieren auch die Möglichkeit der Veränderung, da wir ja stets gebunden bleiben an diese Identität, wir begeben uns in einen Zustand, der einem merkwürdigen Opferstatus nahekommt. „Ich als Frau darf das sagen“, „ich als Herthafan kann das nun wirklich behaupten“. Gelitten haben sie gewissermaßen alle, die da sprechen.
Mittlerweile ist es Usus geworden, damit politisch zu arbeiten. Denn die behauptete Verletzung liefert in unserer Gesellschaft die allerbeste Sprecherlegitimation. Die Beleidigten und Verletzten sind die, die zunächst einmal öffentlich sprechen dürfen. Das ist richtig und wichtig für eine Gesellschaft, lange hat es gedauert, bis das etabliert wurde, das darf man nicht vergessen, es war eines der ursprünglichen Ziele von PC, den Marginalisierten eine Stimme zu geben, Sichtbarkeiten zu erzeugen, von Aktivistinnengruppen und grassroots-Organisationen initiiert. Doch heute berufen sich Rechtspopulisten auf ihren Minderheitenstatus und begehren gegen eine fiktive „linke“ Hegemonie auf (Anders Breivik hat das am prominentesten getan) oder gegen das sogenannte Establishment, es ist eine juristische und rhetorische Zwickmühle geworden, die zunehmend von autoritärer Seite benutzt wird. Chauvinistische, rechtspopulistische, ressentimentgeladene Menschen sehen sich öffentlich verletzt und beleidigt, z.B. in ihrem Nationalstolz, in ihrer Lebensweise (bedroht durch die „Fremden“), durch Linke, durch emanzipierte Frauen, durch Intellektuelle. Da verkehrt sich gerade etwas, z.B. wenn wir auf die rechtsgerichtete Bewegung der Identitären blicken, die es vor allem in Österreich gibt. Sie arbeitet mit eben den gleichen grassroot-artigen PC-Rhetoriken wie das linke Bürgerrechts- und Emanzipationsbewegungen getan haben, und es scheint, dass dieses „ich als“ vollständig davon vergiftet ist.
Benutzt wird dabei eine Opfer-Rhetorik, die die Schriftstellerin Ingeborg Bachmann schon Mitte des 20. Jahrhunderts entsetzt hat.
„Auf das Opfer darf keiner sich berufen“, hieß Bachmanns kleines Fragment, das sich mit der Opfermechanik der Gesellschaft zu beschäftigen suchte. Ein schroffer kleiner Text, der schon wieder zu Ende ist, kaum hat er Argumentationsschritte eingeschlagen. Er führt nicht aus, was er überlegt, bringt schon mal die Schwierigkeit, das auszudrücken als Türschloss an, das man zwar gut absperren kann, aber nicht so gut wieder aufsperren, vermutlich, weil auch Ingeborg Bachmann schon klar war, dass es eine heikle Thematik ist, die sie da anstößt, umgeben von Tabus und Verdrehungen, Schweigegeboten und rituellen Abwendungen. Sie schreibt darin: „Es ist nicht wahr, daß die Opfer mahnen, bezeugen, Zeugenschaft für etwas ablegen, das ist eine der furchtbarsten und gedankenlosesten, schwächsten Positionierungen.“ Der ganze Text wendet sich gegen die Instrumentalisierung der Opfer. „Auf das Opfer darf keiner sich berufen. Es ist Mißbrauch. Kein Land und keine Gruppe, keine Idee, darf sich auf ihre Toten berufen.“ (S. 135)
Doch es sei ein Zwielicht, in die der Mensch, der nicht Opfer ist, gerate, und der beinahe zum Opfer Gewordene gehe mit seinen Irrtümern weiter, stifte neue Irrtümer, „er ist nicht ‚in der Wahrheit’, er ist nicht bevorzugt.“
Dieser Text lässt einen nachdenklich zurück, gerade seinen letzten Satz finde ich bemerkenswert, denn genau diesen Irrtum kultivieren wir heute. Wir, also die Mediengesellschaft, deren Teil wir notwendigerweise sind, machen nichts anderes, als ins Licht dieser falschen Wahrheit zu drängen und eine ganze Opferdynamik am Laufen zu halten, die oftmals nur sehr vermittelt etwas mit dem realen Opfer zu tun hat. Immer schiebt sich diese Instrumentalisierung rein, es entstehen Opferhierarchien, die nun tatsächlich ein Zeichen ziemlicher Barbarei sind. Und so gibt es wirklichere Opfer und unwirklichere, wichtigere und unwichtigere. Die Opfer in Bagdad oder Kabul sind niemals mit denen in Istanbul, Brüssel oder Paris zu vergleichen, die von Istanbul ja schon nicht mit denen von Brüssel, permanent stellt sich die Frage, wer wann wie und vor allem wie sehr ein Opfer sein darf, ob ein Kriegsflüchtling wirklich Opfer seiner Situation ist, bzw. genug Opfer, oder ob ein Wirtschaftsflüchtling in ihm stecken könnte. Die Kalkulation ihres derzeitigen Öffentlichkeitswerts hält nicht wenige auf Trab. Allerdings wird das nicht frei ausdiskutiert, sondern von einer dahinterliegenden hegemonialen Matrix bestimmt, die an politischen, historischen und wirtschaftlichen Interessenszusammenhängen aufgespannt ist, nicht so sehr an moralischen Kategorien, wie man es vielleicht gerne offiziell hätte.
Und es ist klar, dass „Auch Deutsche unter den Opfern“, wie ein Buchtitel von Benjamin von Stuckrad-Barre vor Jahren hieß, zumindest in Deutschland der Bluechip schlechthin ist, der Dax unter den Aktienindizes.
Das „ich“ der personal effectiveness, jene in Glaubwürdigkeitskämpfen verfestigte Form, ist darin genauso verstrickt wie auch die rechtspopulistische Positionierung im Wahren. Wenn die ganze bürgerliche Presse sowie die politische Klasse der Lüge bezichtigt wird und im selben Atemzug gelogen werden darf, hat man eine Figur des Wahren um sich geschaffen, die unschlagbar ist. Der Politologe Jan-Werner Müller hat in seinem Buch über Populismus genau das beschrieben. Die rhetorischen Gesten, die Rechtspopulisten typische Sprache scheinen immer wieder darauf abzuzielen. Immer wieder treffen wir die klassischen Fiktionen: das Othering, den Ausschluss anderer zu Zwecken des Erstellens eines „wahren Volkes“, die paranoide Verschwörungsnummer, die Konstruktion der Lügen der anderen. Es ist ein zentraler Moment der rhetorischen Arbeit von Rechtspopulisten.
Jan-Werner Müller dekliniert das ganze System durch, das uns leider in den nächsten Jahren beschäftigen wird. Mir erscheint es mehr und mehr wie eine Sprache, ein Code, mit dem noch Kollektive herzustellen sind, der antiintellektuelle und antiinstitutionelle Reflexe in sich trägt. Rechtspopulisten scheinen keine Vermittlungsinstanz zu benötigen, sie sind das Volk und sie sind authentischer, sie haben stets den direkten Draht und sind direkter Ausdruck der Bürger. Das erinnert mich stark an den Antiinszenierungs- und Anti-Formdiskursreflex in der Literatur und Theaterdiskussion. Die Sehnsucht nach dem Echten verträgt nur sich verbergende Formen. Und das ist wieder eine eminent politische Frage. In dem Moment, in dem sich die Form verbirgt, wird die Konstruktion unsichtbar, die Dinge erscheinen naturalisiert.
Wenn Authentizität zu einer begehrten Ware geworden ist und die Bezeichnung „ich“ ein wichtiger Bestandteil einer politischen Legitimationsstruktur, Zeugenschaft eingespannt wird in diesem Rahmen einer Aufmerksamkeitsökonomie, in der am meisten gehört wird, wer sich als Opfer möglichst gut darstellen kann, dann hat das auch einen Einfluss darauf, wie eine literarische Ich-Erzählung heute gelesen wird. Und wenn der „amoralische Schauspieler“ der Lüge bezichtigt wird, weil er die Zeugenschaft negiert und spielen will, wenn jeglicher Inszenierungscharakter, den wir in der Kunst erleben, in diesen Geruch gerät, dann werden wir auf etwas festgelegt, was immer schon längst entschieden ist. Der Interpretationsspielraum wird schmaler, sehr viel schmaler. Wolfgang Engler erinnert sich diesbezüglich an die Zensur in alten sozialistischen Zeiten.
Es sieht so aus, als würde die Opferfigur unsere Gesellschaft zusammenhalten, und genau das hat die Literatur immer wieder thematisiert, ob in klassischen Texten oder der griechischen Tragödie, Antigone oder Ophelia.
Lese ich allerdings in der Poetik des Aristoteles, finde ich in Bezug auf die Helden der griechischen Dramen etwas Erstaunliches, etwas, das ich noch nicht ganz verstehe. Der Held muss immer erst wiedererkannt werden. „Odysseus gibt sich zu erkennen“, heißt es, als wäre er völlig versteckt in einem Suchbild, untergetaucht in einer tragischen Verwicklung. Wieso braucht es das, dass sich Orest Ipigenie zu erkennen gibt? Dieses Wiedererkennen ist laut Aristoteles einer der drei wichtigen Bestandteile der Fabel, doch lässt mich dieser Akt fragend zurück. Wie kann es stattfinden? Und: Entrückt es nicht die Figuren? Welche Masken werden da getragen, und welche Form der Abstraktion wandert in diesem Figurenkonzept herum? Vielleicht wäre es ja für uns heute brauchbar, wo sich niemand mehr zu erkennen geben kann, weil alle immer schon bekannt sind.
Es bestehen jedenfalls erstaunliche Korrespondenzen zwischen dem Immer-schon-Bekannt-Sein der heutigen Figuren und der Tatsache, dass diese Gesellschaft an entscheidenden Stellen kein Mitleid mehr zur Verfügung hat, dass in ihr das reale Opfer stets unsichtbar bleibt, der blinde Fleck, ob in Strafgerichtsverhandlungen oder in Talkshows, ob in einer täterfixierten Optik oder in einer hochgradig inszenierten Maske des Opfers. Vielleicht gerade, weil wir keine Riten dafür haben, keine Strukturen der kollektiven Vergebung. Währenddessen wird öffentlich auf der Kategorie eines eingeforderten Mitleids bestanden, so dass ich den Eindruck habe, man bräuchte direkt einen Studienabschluss in Opferkunde, wenn man in die Politik möchte. (Möchte noch jemand in die Politik?) Dort könnte man möglicherweise lernen, dass der österreichische FPÖ-Politiker, der nach dem ersten Wahlgang der Bundespräsidentenwahl in diesem Jahr an einem queeren Lokal vorbeigeht, vor dem ein Schild mit der Aufschrift steht: „Wer zu den 35% (der Hofer-Wähler) gehört, möge hier doch bitte weitergehen“ nicht zu den Opfern des Ausschlusses an sozialer Teilhabe gehört (es hat wirklich einer geklagt im Rahmen der Menschenrechte und des Minderheitenschutzes).
Andererseits frage ich mich, was passiert, wenn ich jemandem einen Opferstatus abspreche –zu wem werde ich dann? Ist das nicht ein fürchterlicher Akt?
Die Stelle aus Milo Raus Theaterstück „Mitleid. Geschichte des Maschinengewehrs“, in der von den syrischen Hipsterflüchtlingen in den griechischen Lagern die Rede ist, die das ihnen angebotene Wasser ablehnten, weil sie nur aus Evian-Plastikfläschchen trinken wollten, war gerade deswegen so signifikant, und doch hat sie mich mit einem mulmigen Gefühl zurückgelassen. Ganz gezielt spielte der Schweizer Autor und Regisseur auf diese Sehnsucht nach dem inszenierten Opfer an. Die bourgeois überspannt wirkende Ursina Lardi, die sich als zwischen Fiktion und authentischer Behauptung schwankende Alter-Ego-Figur über die zu hipsterartig auftretenden Flüchtlinge beschwert und sie mit den eigentlich echten Flüchtlingen aus dem Kongo vergleicht, ihnen dadurch ihr Schicksal abspricht oder zumindest verkleinert, wirkt wie ein schräges Selbstportrait des Autors als engagiertem Mann. Und zugleich stand plötzlich eine Verbindung zu den wütenden Repliken von konservativer und rechter Seite im Raum, die besagen, Flüchtlinge würden arrogant die Hilfe zurückweisen, was ihren Status als Flüchtlinge in Frage stellt, denn schließlich sollten sie ja für ALLES dankbar sein.
Genauso wie die Überlebenden des 11. September im Fernsehstudio optisch hergerichtet werden mussten, müssen Kriegsflüchtlinge als Opfer quasi maskiert werden, damit sie ihr durch die Genfer Flüchtlingskonvention verbrieftes Recht moralisch durchsetzen können. Gleichzeitig existiert eine Diskussion, wie denn Flüchtlinge zu bezeichnen wären, ob als Migrantinnen, Newcomer oder Neuangekommene, Bezeichnungen, die das Erlittene verbergen, euphemistisch sind, ihnen zwar ihre Würde zurückgeben, zumindest sprachlich den Verlust der Handlungsmacht ausgleichen, und doch am Erlittenen vorbeigehen. Im Menschenrechtsdiskurs wird übrigens gar nicht mehr von Opfern gesprochen, sondern von Überlebenden, was mir plausibel erscheint, zumal darin sowohl das Erlebte als auch die politische Aktivierung enthalten sind.
Das reale Opfer hat jedenfalls immense Probleme mit seiner Sichtbarkeit, nicht nur von außen, sondern auch von seinen eigenen Kommunikationsmöglichkeiten her. Carolin Emckes Buch „Weil es sagbar ist“ hat mir zu verstehen gegeben, wie schwierig es ist, Zeugenschaft abzulegen, wenn man tatsächlich eine traumatisierende Erfahrung gemacht hat. Sie beginnt ihren Text mit einem Achmatova-Zitat: Die sowjetische Autorin erzählt, wie sie in einem Leningrader Gefängnis bedrängt wurde, die Geschichte der Gefangenen zu erzählen. Einen Auftrag, den Emcke als Kriegsreporterin auch immer wieder bekommen habe. Ihr geht es um die Frage der moralischen Zeugenschaft von Opfern extremer Gewalt, von massiven Menschenrechtsverletzungen, von Holocaust, Kriegserfahrung, Folter, die sie klar von anderen Zeugenschaften trennt.
Sie dekliniert in ihrem Essay die unterschiedlichen Schwierigkeiten durch, die es zu überwinden gilt, wenn man derart Erlittenes zur Sprache bringen möchte, selbst oder auch in dem gerade erwähnten Auftrag. Nicht nur die Tabuisierung von außen gilt es zu bekämpfen, sondern auch die von innen, nämlich die durch die Traumatisierung ausgelöste Auflösung aller Bezüge, die Auslöschung der eigenen Persönlichkeit, die ein Schweigen nach sich zieht, die Vernichtung jeglicher kommunikativer Verhältnisse. „Zunächst wird das Verhältnis des Ichs zur Welt zerrüttet. Erst danach kommt jene Verstörung über die Person hinzu, die man durch diese Umwelt wird.“ (S. 45), zitiert Emcke die amerikanische Historikerin Elaine Scarry. Der Betroffene wird seiner Sprechfähigkeit beraubt, weil plötzlich andere Regeln herrschen, weil plötzlich nichts mehr gilt, was vorher richtig war, er versteht die Welt nicht mehr und hält sich umso mehr an Details fest, die einen noch an die funktionierende, einem verständliche Welt erinnern, als könnte er sie dadurch verlängern, und die paradoxerweise das Ausmaß des Schmerzes umso deutlicher machen können.
Danach werden Überlebende in ihrer Zeugenschaft behindert durch die sich rhetorisch fortsetzende Entkoppelung und Verdinglichung, in deren Mitte die Floskel vom „Unaussprechlichen, Unsagbaren“ thront, die unfreiwillig ein Bündnis mit den Tätern eingeht.
Emcke beschreibt anhand der klassischen Holocaust-Literatur, z.B. von Primo Levi oder Imre Kertesz die unterschiedlichen Strategien, dennoch zu Formen des Erzählens zu kommen: die Möglichkeit, mit kleinen Objekten zu arbeiten, die eine Brücke herstellen sollen zu der Zeit davor, oder die, Geschichten regelrecht in sich einzufrieren, sie „einem Kältebad der Distanz“ auszusetzen, und doch noch zu zeigen. Weitaus schwieriger ist es, das Erlebte mit einem historischen Rahmen zu verbinden. Eine Re-Humanisierung durch Zeugenschaft (S. 20) zu unternehmen, heißt nicht nur Kontextualisierungsarbeit zu leisten, sondern auch mit den Regeln des Traumas umzugehen, den Dekontextualisierungen, der Brüchigkeit der zeitlichen Struktur.
Mich haben insofern gewisse Formen interessiert, die Emcke aufgreift und die tatsächlich paradigmatisch für den Weltverlust sind, den Überlebende hinter sich haben: das unwillige Detail, die zeitliche Turbulenz, Dehnungen, absurde Dialoge, die mehr mit der Disjunktion als mit der Verbindung zu tun haben.
Ich kann jetzt nicht auf den gesamten theoretischen und literarischen Diskurs verweisen, der sich bereits mit diesem Vorgang beschäftigt hat, vor allem in der Auseinandersetzung mit dem Holocaust, es ist merkwürdig für mich, auf ihn wieder zu stoßen, schließlich habe ich die dazugehörige Literatur, die von Jorge Semprún, Imre Kertesz und Primo Levi, die von Marguerite Duras, typischerweise vor ungefähr zwei Jahrzehnten gelesen und frage mich heute, warum sie mich wieder zu beschäftigen beginnt. Ist es das „prä-genozidale Klima“, von dem mir A. L. Kennedy vor kurzem in einem Brief über die Situation in ihrem Land schrieb? Erleben einige um uns herum wieder diesen beginnenden Weltverlust?
Zudem erscheint es auf den ersten Blick sonderbar, wie im Zeitalter der Handydemokratien und Echtzeitdokumentationen dieses Diktum von der „Unerzählbarkeit“, die Wortlosigkeit, das Unvermögen, das Erlebte in eine Geschichte zu packen, bestehen bleibt, als wäre das ein merkwürdiger Kontrast, aber vielleicht ist es auch nur eine Entsprechung. Die Erzählung nicht einfrieren zu lassen in die Raster des Abgedroschenen, die Erfahrung sozusagen wirklich zu transportieren, und zwar eine Erfahrung, die nicht transportierbar ist, die aber vom Fleck kommen muss, damit ein soziales Überleben möglich ist, ist eine andere Tätigkeit als die bloße Abbildung, das Fotografieren oder Filmen mit dem Handy, so notwendig das manchmal in juristischer Hinsicht sein kann.
Die Echtzeit-Zeugenschaft kann aber auch, wir haben das bei den Fotografien von Abu Ghraib gesehen, sogar Teil der Folter werden (erst in einem zweiten Schritt wurden sie durch den öffentlichen Diskurs zum Sinnbild eines moralisch verlorenen Krieges der USA). Der Diskurs um sekundäre Viktimisierung und die Rolle der Kriegsfotografie, wie sie Susan Sontag in „Das Leiden anderer betrachten“ und W. J. T. Mitchell in „Cloning Terror“ thematisiert, sollte auch Teil einer literarischen Aufarbeitung eines solchen Geschehens sein.
Über Zeugenschaft gilt es jedenfalls nachzudenken, auch über die Frage, wie das bloß Erlebte zur gesellschaftlichen Erfahrung gerinnen kann. Im Theater sicherlich nicht alleine durch jenes authentische Heruntererzählen, dafür braucht es schon die literarische Form, möchte man überhaupt noch im sprachlichen Raum bleiben, der für Zeugenschaft meines Erachtens allerdings notwendig ist. Vielleicht ist das Problem der Zeugenschaft eine Schlüsselproblematik im Nachdenken über das literarische Erzählen überhaupt. Was ist sagbar? Was übersehe ich? Geht es mir vielleicht manchmal wie jene Protagonisten in dem Film „The Act of Killing“ von Joshua Oppenheimer, die ihre eigenen Gräueltaten übersehen? Was lasse ich nicht zu Wort kommen? Was unterschlage ich?
Mit diesen Fragestellung wird jedenfalls die Brüchigkeit der Schnittstelle von öffentlicher und privater Erfahrung deutlicher, und auch der Moment sichtbar, an dem wir nicht aufgeben sollten, die Übersetzung einer realen Szene in einen literarischen Text an dem zu messen, was gesellschaftlich zum Schweigen verurteilt ist.
Meine Damen und Herren, während ich das schreibe, befinde ich mich im Zeitalter einer amerikanischen Präsidentschaftswahl, in der der Sieger ein Lügner ist, jemand der mit Unterstellungen, Hate Speech arbeitet und moralisch keine Grenzen kennt. Der einen sogenannten postfaktischen Wahlkampf führte, in dem es gar nicht mehr um tatsächliche Begebenheiten ging, geschweige denn um politische Fragen, sondern letztlich nur um eine persönliche Schlammschlacht, in der der gewinnt, der am unverschämtesten rhetorisch agiert. Und es ist gut, dass mich am Morgen der Wahl der Schriftsteller Ulrich Peltzer anruft und mir jenes berühmte Joyce-Zitat aus dem „Ulysses“ an den Kopf wirft: „Geschichte (...) ist ein Albtraum, aus dem ich zu erwachen versuche.“ Wie geht dieses Erwachen, wie stellt sich das literarische Aufwachen dar? Mit Schrecksekunden, dem Nachtschweiß, den Orientierungssuchen? Und: Ist es mein eigener Albtraum oder ein kollektiver? Möglicherweise träume ich den von jemand anders oder einer Gruppe, zu der ich mich gar nicht zählen darf. Das wäre umso schrecklicher! Auch A. L. Kennedy schreibt anlässlich unseres von den deutschsprachigen Literaturhäusern organisierten Austausches über Europa, den Brexit und die rechtspopulistischen Strömungen.
Zeugenschaft braucht Zuhörer, macht sie mir in ihren Briefen klar, empathische Zuhörer, zur Einfühlung bereite, solche, die noch reagieren wollen auf ein Geschehen, doch diese Reaktion benötigt Zeit. Die Kategorie der Empathie ist der schottischen Autorin zentral, in einem vielleicht zu Unrecht auf mich etwas pathetisch wirkenden Gestus fordert sie Liebe und Einfühlung in einem Feld ein, das ich gerne von scharfer Kritik und zumindest vorsichtiger Dekonstruktion humanistischer Engführung bestimmt sehen würde, schließlich bin ich mit Thomas Bernhard und Elfriede Jelinek aufgewachsen. Und doch: Empathie wirkt bei ihr wie etwas von Gewicht, das sie gegen die rechtspopulistische Hetze und eben jene als „prägenozidal“ erlebte britische Kultur setzt. (Morddrohungen an Andersdenkenden seien an der Tagesordnung, Attacken folgten dem nach.)
Ich antwortete ihr erst einmal, dass ich es für ein gutes Zeichen hielt, dass im ehemals sozialdemokratischen Österreich Autoren wie Elfriede Jelinek und Thomas Bernhard eine so starke Wirkung entfalten konnten. Aber vielleicht ist es wirklich wieder an der Zeit, über Literatur grundlegende Psychotechniken wie das Mitgefühl in das kollektive Bewusstsein einzuführen. Schließlich braucht es gewisse ethische Mindeststandards, um eine Kritik an Verhältnissen überhaupt verstehen zu können.
Auch Carolin Emcke stellt in ihrem Essay die Frage nach der Empathie und betritt damit den Haupttrainingsbereich der Literatur, nach wie vor. Denn Empathie beschäftigt jeden Grundkurs über das literarische Schreiben, von „Aristoteles for Screenwriters“ angefangen bis zu den erstaunlichen Formen des zeitgenössischen Charakterbaus. Figurenkonstruktionen, die Empathie ermöglichen, hatten ja bei Aristoteles mit gewissen Gleichmäßigkeiten zu tun (selbst die Ungleichmäßigkeiten im Charakter müssen gleichmäßig erscheinen), und eine spezifische zeitliche Struktur des Aufbaus und Facettenwechsels, damit das Publikum dranbleibe an einer Figur, wie bei den Serienproduktionen des Fernsehens sichtbar wird. Immer wieder, nach jeder neuen Begegnung (die Konstellationen müssen ja ständig wechseln in einem überschaubaren Figurenset), gelte es eine neue Eigenschaft einzubauen. Was in diesem Empathiekonzept übersehen wird, ist der rege Einstiegs- und Ausstiegsverkehr, der fürs Empathisch-Sein notwendig ist.
Und mit der Frage, was wir heute gelernt haben, von uns selbst zu glauben, etwas, das sich gespenstisch ausrichtet an den Normen unserer Zeit: Flexibilität und Dynamik, Corporate Identity, Warenform, unternehmerisches Selbst und gleichzeitig klares Produktprogramm: „So bin ich eben“. Auf diesem widersprüchlichen Hintergrund verstand ich die zerfasernde Spur der Figurenzeichnungen in „Infinite Jest“. David Foster Wallace erging sich in körperlichen Auflösungsbeschreibungen, der Betonung des Wirbellosen, Figuren ohne Knochen, ohne Konturen, Krankheitsformen, die es unmöglich geben kann und die also metaphorisch bleiben, aber stets mit der Deformation und Weichzeichnung des Körpers, seiner Grenzen zu tun haben, als emblematisches Gegen-Bild zu der oben beschriebenen gesellschaftlichen Aufforderung. Seine Figur Mario Incandenza lebt sozusagen am Rand der Empathiemöglichkeit, aber auch die Verwandlung eines süchtigen Transsexuellen in einen Haufen Dreck ist kaum erträglich. Die Hassorgien eines Tierquälers, der seine sadistische Begierde langsam auf die Menschen überträgt, führen einem mehr vor, wie gefährlich es ist, sich einzufühlen. Dazu passt die Aufforderung der AA-Gruppen zur „totalen Empathie“, (S. 497) fast wie die Faust aufs Auge: „Junge, können die sich identifizieren“ (S. 500), kommentiert Foster Wallaces Figur Don Gately, Mädchen für alles und Housekeeper im Entzugsheims, nur ernüchtert die Situation während der letztlich doch immergleichen Lebenserzählung eines Süchtigen.
Es sind die alten zentralen Fragen: Wie weit kann man sich in jemand einfühlen, wo fängt das „Andere“ an, ist diese Kategorie überhaupt haltbar, und wann beginnen wir sie zu konstruieren, um sie uns vom Hals zu halten?
A. L. Kennedy selbst praktiziert die Kunst der Empathie z.B. in „Der letzte Schrei“ mit vielen beinahe schon Hip-Hop-artigen Moves, mit Wendungen und Distanznahmen, Doppelgleisigkeiten, die zur Genüge veranschaulichen, wie weit weg sie mit ihrem Empathieverständnis von einem klebrig, süßlich, sentimentalen Ansatz wäre, den man landläufig damit verbindet. Insgesamt handelt es sich bei ihr um einen regen Einstiegs- und Ausstiegsverkehr in Figuren.
Tim Etchells wiederum, ich habe das letzte Mal seine „Broken World“ zitiert, nahm verschiedene Realitätsebenen zu Hilfe, um das Konzept der Empathie zu thematisieren. Mit einer irren Komik lässt er seinen Erzähler-Helden die affektive Einbindung der fiktiven Spieler bewerkstelligen, die richtige Einübung in die richtigen Figuren, die mit der Suche nach der Tastenkombination fürs Bereuen einhergehen kann, aber auch dem direkten Imperativ, JETZT jemand zu SEIN. Wir lernen nach und nach, wie jene Second-Hand-Empathie, die über Online-Charaktere und das soziale Netz der anderen Spieler Umwege machen muss, eine unterschätzte Kraft ist, aus der etwas zu holen wäre, jenseits der in unserer Gesellschaft durchaus existierenden sentimentalen Empathiegebote.
Mir stellte sich immer wieder, gerade durch meine Art der Recherche über Gespräche, die Frage nach der falschen Einfühlung – frei nach Hubert Fichte würde ich sagen: Ich mache doch nicht Machthaber auf gefühlsduselige Weise menschlich, ich zeige doch nicht Putin beim Jagen oder Trump im Kreise seiner Familie. Ressentiment und Sentimentalität wohnen ja dicht beieinander, Kitsch als, wie Robert Gernhardt sagen würde, ungenau gedachte Gefühl kann wunderbar instrumentalisiert werden. Wenn die Anschlussstellen nicht mehr stimmen und plötzlich zu viel Gefühl da ist für Situationen, die einen nicht betreffen, wird es allerdings wieder interessant. Wenedikt Jerofejews „Reise nach Petuschki“, nach wie vor eines der wunderbarsten Bücher des 20. Jahrhunderts, arbeitet ganz gezielt damit. Es ist natürlich ein irrwitziger Säuferroman, der mit Rezepten wie der „Träne der Komsomolzin“ oder dem „Kuss der Tante Klara“ Literaturgeschichte geschrieben hat. Es ist, als wäre eine Gefühlsökonomie durcheinandergekommen, die sich nicht mehr ordnen lässt, zurückführen auf die Ebene eines humanen Miteinanders. Das Mitgefühl schlägt immer schon in etwas anderes um. So etwas fasziniert mich, es ist sozusagen mein Forschungsfeld.
Es gibt also die bewegliche Empathie von Kennedy, die ausfasernde von Foster Wallace, die Secondhand-Empathie von Etchells und die scheußliche, falsch liegende, die mich interessiert und zum Beispiel die Online-Redakteurin aus meinem Roman „wir schlafen nicht“ protestieren lässt: „zunächst einübung in zahlen, die man doch nicht versteht, und dann einübung ins mitleid mit managern und beratern, um die sich diese zahlen drehen, und letztendlich noch einübung in den sekundentakt, in dem man zu verschwinden hat, weil man die gegenwart dieser herren stört…“ (S. 140)
Zur Zeit mehren sich die Befunde, dass wir längst eine Gesellschaft des Affektiven geworden sind, in dem die Emotion den Diskurs beherrscht. Mit wem wir alles andauernd mitfühlen müssen, ist ja eigentlich unglaublich, und diese Gefühle vermissen dann natürlich den Anschluss an eine reale Lebenspraxis. Das moralische Gebot ersetzt oft die politische Diskussion um Formen der Teilhabe.
Pauschale Gesten sind ja vorhanden, wie das rhetorisch geübte Inkludieren, welches in der Diskussion um PC in den USA stark auftritt. Alles und jedes muss da mit eingeschlossen werden, es wird eine Art Fiktion der Demokratie in der Sprache eröffnet, in der alle gleichzeitig da sind, was angesichts der Diachronizität von Sprache sich als schwierig gestaltet. Der Versuch einer rhetorisch perfekt konstruierten Struktur, der dann schon das Reale nachfolgen wird, scheitert vermutlich gerade dann, wenn sie wie eine perfekte Gegenbewegung zur Sprache des Ausschlusses wirkt. Und wie soll man die Frage beantworten, warum jetzt Transsexuelle prioritär behandelt werden müssen gegenüber Migrantinnen oder Schwerbehinderten. Das kann einen obsessiv beschäftigen, öffentliche Redner wissen ein Lied davon zu singen. Das Bewusstsein, dass Kommunikation ein absurdes Minenfeld ist, zeigt sich gerade in dem Versuch, es zu befrieden. Und so wundert es nicht, dass Mitglieder des Verbands der deutschen Redenschreiber in aller Vehemenz ihre Abneigung von PC gegenüber Matthias Dusini deutlich machten, der ihnen sein Buch „In Anführungszeichen“ vorstellte. Menschen, die sich Protokollchefs gegenübersehen, die über Erstnennung und Letztnennung wachen, über Vollständigkeit in einem Medium, das die Lücke braucht, verfügen vermutlich nur noch über wenig Humor diesbezüglich.
Als Bernd Stegemann in seinem Buch „Kritik des Theaters“ mit einem Hegelzitat über das entsetzlich Böse in dieser Welt, das sich in der Figur der „schönen Seele“ zeige, seine Auseinandersetzung mit der Postdramatik lostrat, war ich etwas konsterniert. Er warf diesem Theater mit seinem auf PC beruhenden Themenstrom Komplizenschaft mit dem Neoliberalismus bzw. Bigotterie vor. Es sei nicht wirklich kritisch, auch wenn es dies vorgebe zu sein, nichts würde in ihm verhandelt. Die wohlfeile Themenwahl lasse die Behauptung des Politischen an ihrer Harmlosigkeit verebben. Was einmal als aktivistisches Projekt gestartet ist, um einzelne Gruppen vor Verfolgung und Diskreditierung zu bewahren, ist heute reiner Kontrollfuror einer studentisch bourgeoisen Schicht. Wie ein politischer Ersatzdiskurs throhnt die richtige Bezeichnung über den realen Interessensgegensätzen, den gesellschaftlichen Widersprüchen und Interessen. Die Spitze des Eisbergs sei das Darstellungsverbot, das in den USA von Transgenderleuten angeregt wurde. Man solle die berühmten „Vaginamonologe“ verbieten, weil ja manche Frauen keine Vagina hätten und das Stück insofern ausschließenden Charakter habe. Auch Wolfgang Englers Schauspielstudentinnen verweigerten einzelne Passagen aus klassischen Stücken zu spielen, da sie nicht ihrer politischen Einstellung entsprächen und sie die Darstellung eines Sexisten von dem sexistischen Text nicht mehr unterscheiden könnten.
Insofern ist es auch heute besser, keine Reden zu halten, sondern um sie herumzukommen, in dem man Geschichten erzählt, ja, die gute alte Fiktion, die für mich gar keine gute alte Fiktion ist, sondern eine neue Fiktion, da ich sie bisher für verdächtig hielt, weil sie als ein zu leicht verfügbarer Möglichkeitsraum in einer unmöglichen Gesellschaft auftritt und außerdem selbst umgeben ist von tausend politischen, wirtschaftlichen, unternehmerischen Fiktionen, die strategisch von PR-Beauftragten und Politikberatern entworfen werden, um politische, wirtschaftliche, unternehmerische Durchschlagskraft zu erzeugen, wie es heißt, um die Dinge an den Mann zu bringen, um Bewegung in die Sache zu kriegen. Da werden dann Geschichten und Gegengeschichten entworfen – die Geschichte von dem Helden, der eine Sache durchzieht und das unter enormen Zeitdruck, die alte Leier von Protagonist und Antagonist, von der Intrige, der geheimen Kartellbildung (oder von den dreien, die sich zusammensetzen in Autobahnraststätten und das ganze Land verdealen), die von der Verschwörung (der Rechtspopulist unterliegt immer einer Verschwörung, gefälschte Wahlen gibt es plötzlich überall), des Verrats etc. Die Konstruktion politischer Narrative hält sich immer noch streng an Shakespeare oder an Machiavelli, wie man es nimmt, selbst wenn sie durch social media und Online-Foren geht. Es sind Narrative, die wenig mit den Fiktionen von Ingeborg Bachmann, A. L. Kennedy, Denis Johnson, David Foster Wallace etc. zu tun haben, vielleicht weil sie mehr Zwischengeschichten entworfen haben, Geschichten, die sozusagen noch unterwegs sind und nicht immer schon angekommen, die niemals ganz im sozialen Hier und Jetzt landen können, sondern immer darüber hinausragen.
Ja, möglicherweise gilt es gerade heute, eine Zwischengeschichte zu entwerfen, eine Maulwurfsgeschichte, die mehrere Ausgänge hat, die vielleicht mehr fiction ist als story, die trotzdem ein Gängesystem freilegen könnte zu anderen Geschichten hin, vielleicht ein Gängesystem, das dieses unselige identitäre Spiel unterbricht, wie wir es derzeit in allen Medien erleben. Eine Geschichte möglicherweise zwischen den Stühlen des Dokumentarischen und des Fiktiven, des Mündlichen und des Schriftlichen, eine Geschichte, die ein Dilemma zeigen könnte, denn das Dilemma ist die interessantere Handlungsverknotung als der Konflikt. Die plötzlich wahrgenommene, harte Selbstwidersprüchlichkeit einer politischen Handlung interessanter als die manipulative Widersprüchlichkeit zwischen antagonistischen Positionen.
Es wird eine Geschichte sein, die mir als ihrer Autorin niemals zur Verfügung steht, bis zum Schluss nicht und darüber hinaus, denn es wird sich sicher nur um eine unfertige Geschichte handeln können, um eine, die noch lange nicht mit sich fertig ist, denn sie enthält immer Fäden, die nach außen reichen. Aussagen wie die von Slavoj Žižek: „Eher können wir uns den Weltuntergang vorstellen als den Untergang des Kapitalismus“ müssen in ihr herumgeistern.
Es ist ja wie gesagt gar nicht mehr so einfach mit dem Verhältnis von Fiktion und Realem, Mediendiskurs und Faktischem, es ist nicht mehr so einfach mit dem Zeitablauf der Erzählung und der Echtzeit, die jetzt angeblich immer herrscht – und die irgendwie jene Fanfiction-Communities mitproduziert, die ihrerseits mitschreiben und umschreiben, was sie vorfinden, ob in Twilight Zone oder der Hunger-Games-Serie. Die Figuren erfinden, die es in jenen Fiktionen noch gar nicht gibt, die da aber ihrer Meinung nach hineingehören, oder aus Männern Frauen machen oder Transsexuelle, die soziale Verhältnisse umdrehen. Mittlerweile, so erzählte mir die Kulturwissenschaftlerin Hanna Mueller, genüge es ihnen aber nicht mehr, ihre Umschriften in der Fiktion zu unternehmen, sie wollten jetzt auch politische Fiktion schreiben, also Realfiktionen. Ihre Fiktion wandert sozusagen in Form einer Lobbygruppe hinaus in die Welt. Und mit der kann man nun wirklich nicht mehr zufrieden sein – alleine, wie sich darin die Charaktere entwickeln, wie die Handlung organisiert ist, wie es mit den Schauplätzen aussieht!
Vielleicht brauchen diese Zwischengeschichten auch Zwischenmenschen als Figuren, vielleicht müssen wir Schriftsteller alle Jean-Luc Godard werden, der nie die Figuren filmte, sondern immer nur den Raum zwischen den Figuren. Nur, dass wir mit der Sprache arbeiten, mit ihren affektiven und infektiven Möglichkeiten, wie sie Witold Gombrowicz so meisterlich gezeigt hat. Aber wären diese Zwischenfiguren möglicherweise wiedererkennbar wie die Heldenfiguren in der „Poetik“ des Aristoteles? Jene Anagnorisis, die ermöglicht, dass sie plötzlich wieder bei ihrem Namen genannt werden, nachdem das eine Weile nicht geschehen konnte? Denn unsere öffentlichen Figuren selbst sind ja, wie ich schon sagte, heute immer schon allzu bekannt. Unser derzeitiges gesellschaftliches Figurenkonzept wirft nur überdeutliche, stets an ihren Alleinstellungsmerkmalen erkennbare Figuren heraus. Sie sind so sehr sie selbst, dass das Prinzip des Wiedererkennens nicht aufgehen kann, denn dazu bräuchte es einen Spielraum des zeitweise Verborgenseins. Gleichzeitig geht ihnen etwas ab, was absolut wichtig für eine Figur wäre, ein wenig reale Gegenwärtigkeit. Die Möglichkeit, hier und jetzt zu sein, und nicht immer schon woanders, wie beispielsweise jene Studenten und Studentinnen, von denen ich in den USA hörte: Sie seien nicht in ihrem Handy, nicht an ihrem Tisch und nicht in ihren Gedanken, sondern überall gleichzeitig und hätten doch ständig das Gefühl, etwas zu verpassen.
Präsenz würde ja auch eine gewisse Konfliktfähigkeit erfordern. „Wenn zwei sich kloppen, das ist Drama“, hat Einar Schleef gesagt, als wäre das eingängig. Mir war das einmal ganz uneingängig, ich wollte noch vor drei Jahren den Konflikt geradezu aus dem Theater verbannen, weil er mir so warenförmig und unrealistisch erschien und ich eher seine szenische Nichtaustragung für angemessen hielt. Wie die Brechtsche Fotografie einer Fabrik, die nichts mehr über deren Funktion und Arbeitsform verrate, schien mir der theatrale Konflikt keinen Hinweis über die reale Arbeit der Widersprüche zu geben. Mir war mit Richard Sennett einfach klar, dass in unserer Welt sich die entscheidenden Konflikte verbergen und das Denken in einfach abzubildenden Interessensgegensätzen nur Juristen und allenfalls PR-Beauftragte beschäftigt, die im Dienst der Privatwirtschaft diese Spuren verwischen. Und selbst deren Konfliktpartner und Kontrahenten wären nicht mehr in einer Szene unterzubringen, nicht in der einen Gerichtsverhandlung, nicht in der einen Situation im Geschäftsführungszimmer.
Und dennoch: Als Motivation für dramatische Handlung ist er schwer wegzudenken, Handlung ist ja etwas anderes als bloße Tätigkeit, analog zum bloßen „In-der-Welt-Sein“ der postdramatischen Figuren, sie ist ein sozial relevantes Geschehen, das sich mit einer Krise verbindet, die in der griechischen Tragödie noch durch einen Fehler des Helden ausgelöst wurde. Mit der reinen Negation der Konflikte kommt man heute auch nicht weiter, selbst Künstler wie Heiner Goebbels mit seinen installativen Geistermaschinen oder Robert Wilson mit seiner eher additiven Auflösung der Szene in Richtung Abstraktion, haben eher gegen die hierarchisierende Ordnung der klassischen Konflikterzählung gearbeitet als sie komplett negiert.
Jetzt, in dieser Situation der drastischen Veränderung gesellschaftlicher Kontexte, liegt allerdings eher die Vermutung nahe, dass uns provozierte Konflikte beschäftigen werden, Konflikte, die über Konflikten liegen. Das Zeitalter des rechtspopulistischen „Zündelns“ ist ja schon länger eröffnet. Es wird diesbezüglich schwierig werden, Konfliktlinien herauszuarbeiten, es werden sich mehr die vielen sich scheinbar widersprechenden Einzelkonflikte zeigen, die keine Frage mehr zulassen, welcher jetzt der „wahre“, der „eigentliche“, der „sprechende“ wäre, sondern mehr wie eine Tektonik aussehen. Eine, die systemisch aufzulösen wir meilenweit von Bertolt Brecht und Heiner Müller entfernt sind.
Interessanterweise macht derzeit eine Form Karriere: der Rechtskonflikt. Das juristische Paradigma wurde wieder eröffnet im literarischen Feld. Nicht nur bei Ferdinand von Schirach streitet man vor Gericht, auch bei Juli Zeh wird dieser Diskurs thematisiert. Warum das Juristische so sehr gesucht wird, hängt sicher mit seiner vermeintlichen Verbindlichkeit zusammen. Darüber lässt sich Politik noch erzählen, das ist im vermeintlich postideologischen, postdemokratischen Zeitalter etwas, an dem man sich festhalten kann, man kann sich aufs Grundgesetz berufen, wenn es sonst keine Utopien mehr gibt. Und es werden darüber gesellschaftliche Riten sichtbar. Da gibt es Verfahren, die den Namen noch verdienen, dazu können implizit durchaus philosophische Fragen gestellt werden. Ich finde es erstaunlich und habe mich lange Zeit um diesen Diskurs herumgedrückt, weil er so schwierig zu fassen ist. Zu abstrakt, zu unsexy für ein Buch und schon gar einen Theaterabend. Es sei denn, man möchte wie in „Terror“ im Genre landen. Der hohe juristische Abstraktionsgrad wird dann von einer klassischen Protagonisten-Antagonisten-Situation sinnlich aufgewogen, zentriert um sich darin ergebende moralische Fragen. Reduziert auf eine geringe Zahl an Verhandlungen, wenn schon nicht die eine vermeintlich entscheidende. Dass es im realen Gericht des internationalen Strafrechts und des öffentlichen Rechts eigentlich um eine Vielzahl daran vorbeigehender Fragen geht, um zahlreiche Akteure, Teilverantwortlichkeiten und sehr unterschiedliche juristische Mittel, dass vieles sich über Jahre hinzieht und eine politische Sichtweise des Gerichts wünschenswert wäre, hat meinem Zögern letztendlich Recht gegeben. Es wäre einfach falsch, diese in einer einzelnen strafprozessartigen Anordnung zuzuspitzen oder gar in einem höchst unwahrscheinlichen Szenario wie bei von Schirach zu platzieren. In jenem Stück wird die klassische wie perfide Frage nach der Aufrechenbarkeit von Menschenleben gestellt, die berühmte Bundeswehrfrage, die stets auf einem Haufen von tatsächlich stattfindenden Aufrechnungen ruht, die ihrerseits nicht genügend dokumentiert oder aufgrund der Asymmetrie des Rechts und der fehlenden Internationalität der Gerichte nicht aufzuarbeiten sind. Das Stück suggeriert, dass mit dieser Fragestellung das Problem zentral gefasst wird, in Wirklichkeit wiederholt man nur seine mediale Dämonisierung.
Wie können diese Zwischengeschichten also aussehen? Handlung im Zeitalter der Angst kann schon mal nur eine Bewegung durch räumliche Konstellationen sein, die fragil sind. Durch ein permanentes Außen, das das panisch aufrechterhaltene Innen konterkariert und bedroht. Ein permanentes Außen also für die Bühne, für die Bücher, die Notwendigkeit, über die Bande zu spielen, einen unsichtbaren Kontext aufzurufen, das Fehlende, nicht Integrierbare zu zeigen.
Analog zu der Hinterzimmerstruktur politischer Konferenzen, zu den Dolmetsch- und Protokollschichten, die mich bei meiner Recherche zu meinem Theaterstück „Die Unvermeidlichen“ fasziniert haben, könnte es darin diese „Vier-Augen-Gespräche“ zu acht, zu zehnt, geben, weil Protokollmenschen dabei sein müssen, weil es Dolmetscher braucht, Geisterfiguren, die nicht tatsächlich da sind und doch anwesend. Analog zu dem Außen, das sich auch in dem heute typischen Staatenkonflikt schlechthin zeigt, den hybriden Kriegssituationen mit unklarer Grenz- und Beteiligungslage, könnten die fiktiven Territorien mit dieser Überlappung arbeiten, die die Frage nach Beteiligung aufwirft.
Der Schauplatz der Literatur könnte aber auch ein durch heute üblich gewordene Selbstmanagementprozesse bestimmtes Innen sein, das gleichzeitig riesengroß und riesenklein ist. Denn diese Grenze zwischen dem Außen und dem Innen ist eine aufgelöste, heimtückisch gewordene Linie. Ja, von Infektionen und Affektionen wird zu sprechen sein, von Übertragungsraten und Rahmenwechsel, und wenn es gelingt, wird es gar nicht so kompliziert sein, wie es jetzt klingen mag, sondern verdammt einleuchtend. Die Dringlichkeit der Form ist wieder eine Frage, die sich stellt, nachdem man sie als allzu modern verabschiedet hat. So schwer diese theoretisch zu beschreiben ist, so plausibel wird ihre Erscheinung sein.
Sie kann mit der Frage, was denn das Ornament ist und was das tatsächlich Gemeinte, zu tun haben, die David Foster Wallace interessiert hat, oder in der nach Diskurs und Positionierung wie bei René Pollesch – ist es eher eine Verstrickung der Personen in ihre Rede oder die Rede eine Verstrickung von Personen? Vielleicht kann man die Machtfragen, wer was wann wie erzählt, nicht anders lösen als durch Vexierbilder, die allerdings ihr Geheimnis offen tragen.
Keine Fragen ohne Gegenfragen, so viel ist klar, und immer noch kein Briefverkehr ohne Gegenüber. Setzen wir also dann doch aufs Gegenüber, zumindest in der Kommunikation, und auf die Möglichkeit des Wiedererkennens!