Zürich 2016 (3)
Fehlerquellen, Fehlerketten – eine Ästhetik des Fehlers
Meine Damen und Herren, wir haben uns geirrt. Wir lagen falsch. Wir konnten die Situation nicht richtig einschätzen, wir unterlagen falschen Annahmen, nein, noch schlimmer, wir können das Ergebnis jetzt noch immer nicht glauben, obwohl wir die richtigen Annahmen gehabt haben mussten. Wir sind fassungslos. In diesem Irrtum sind wir noch einmal ein Kollektiv, das sich von Positionen von Friedrich Merz bis zu Gregor Gysi, von Deutschland aus gedacht, von der Harvard-Dekanin bis zum Weltwirtschaftsinstitutsleiter her verbinden lässt. Die noch Prognosewilligen dezimieren sich allerdings stündlich, die Volatilität der Wähler scheint weiter gegeben. Das waren die ersten Reaktionen nach der US-Wahl, die nach dem Brexitvotum, die nach der österreichischen Präsidentschaftswahl. Immer wieder waren wir fassungslos. Und es wird eng. Nochmal werden wir uns nicht irren, sage zumindest ich mir, und erwarte jetzt alles, aber das ist viel fürchterlicher.
Die eilfertige Rede von der postfaktischen Gesellschaft, so lernte ich aus der SZ am Wochenende von Evelyn Roll, gibt zu viel auf. Man müsse darauf beharren, das Presserecht bei Facebook und Twitter durchzusetzen. Derzeit erscheint es jedoch so, als wären zu viele Rechnungen offen, zu viel Unverständnis im Raum, könnte man meinen, als dass Aufklärung noch eine Position hätte. Das kann und darf natürlich nicht sein, wollen wir nicht in ein absolutes Chaos stürzen. Und gäbe es in diesem Chaos noch sowas wie Literatur, wäre sie nur noch ein feudales Ornament, ein Anhängsel von irgendetwas, das ich lieber nicht näher beschreiben möchte. Nein, vielleicht ist es sogar besser, sich zu irren. Im Fehler liegen mehr Chancen als in dem eilfertigen Akzeptieren des Ungeheuerlichen. Verweilen wir also einen Moment beim Fehler.
Meine Damen und Herren, wenn ich Reden schreibe oder Vorlesungen, vor allem Poetikvorlesungen, passiert es mir immer wieder, dass ich permanent neue Anfänge entwerfe, die ich dem eigentlichen, ursprünglichen Anfang vornewegsetze, ich gehe quasi erstmal in die Gegenrichtung des noch imaginären Textes, d.h. in die Gegenrichtung der zu erwartenden gedanklichen Konstruktion, quasi flussaufwärts, aber auch nicht in Richtung Quelle. Wo willst du da eigentlich hin?, frage ich mich, wieso musst du immer zwei Richtungen aufmachen, die offizielle, in die es gehen soll, und diese andere, die noch nicht definierte? Es handelt sich dabei ja nicht um einen unendlichen Regress, der ein Referenzsystem pflichtschuldigst markiert, ich eröffne einen widersprüchlichen Raum. Als gebe es eine Schwierigkeit, in den Text hineinzufinden, als hätte er keinen Eingang und müsste erst einmal mit vielen Vorgärten, Vorzimmern und Windfängen, wie man in Österreich sagt, umgeben werden. Ich baue nach außen, bevor das Haus überhaupt steht.
Z.B. jetzt habe ich, vor der kurzen langen Zeit vor den US-Wahlen, also im September, diese Vorlesung erst einmal so begonnen:
Manchmal sind die Wege aus einem Text schwieriger als die Wege in ihn hinein. Wenn man mit etwas nicht fertig geworden ist. Wenn Reste übrigbleiben, herausstechende Fragen, Unerledigtes, im Text Liegengebliebenes. Manchmal kommt man als Autor derart schlecht aus seinem Buch heraus, dass nur ein anderes abhelfen kann. Man wird es anders anlegen, es anders durchziehen, und am Ende wird es wieder ähnlich aussehen – vielleicht. Und manchmal wird das zu einem ewigen Kreislauf. Sicher, zahlreiche Autoren – Thomas Bernhard, auf eine Weise David Foster Wallace, vielleicht auch die spätere Elfriede Jelinek – sind auf so hervorragende Weise nie aus ihrem Text herausgekommen, dass man darin auch kein Problem sehen könnte. Und sicher, die eben Genannten blieben auch nicht nur einfach Einwohner ihrer innertextuellen Welten, ihres berühmten Sounds, ihrer Attitüden und verwuchsen langsam mit ihren Kunstwerken, wie es dieser chinesische Künstler gemacht hat, der dann tatsächlich in sein Bild eingetreten und darin verschwunden ist, diese Beziehung verläuft nicht so harmonisch, denn ihr Bild, d.h. der Text scheint ein Eigenleben zu haben, verweigert den vollständigen Eintritt seiner Autoren, und diese ragen paradoxerweise darüber hinaus. Ich kann nur sagen, man sucht sich diesen grundsätzlichen Vorgang nicht aus. Und: Es sind die Fehler, die zumindest mich am Laufen halten. Das, was nicht aufgegangen ist, das, was quersteht, was mich weiter beschäftigt hält, und es steht meist etwas quer und beschäftigt weiter.
Unter all den Texten, mit denen ich nicht fertig wurde, gab es aber manchmal auch welche, aus denen ich WIRKLICH nicht rausgekommen bin, in die ich mich derart verheddert habe, dass ich sie eine ganze Weile oder gar bis heute mit mir mitschleife, obwohl ich sie manchmal abschütteln möchte. Texte wie unliebsame Gläubiger, in denen sozusagen mehr als einige Rechnungen offen blieben und die mich danach theoretisch weitaus mehr beschäftigt hielten als andere. Manche Fragen verdoppeln sich ja auch mit der Zeit, der Text wird sozusagen pöbelig. Es sind Textschulden, die man aus irgendwelchen Gründen nicht abtragen kann, die sich aber nicht analog einer ökonomischen Schuld verhalten, sondern nicht kalkulierbar, aber sehr beißend. Ob es Theaterstücke sind, die nicht aufgehen, Erzählungen, die Fragen offen lassen, Hörspiele, die noch nicht ganz angekommen sind, oder Erzählungen, die noch etwas mehr von sich erwarten und einem andauernd zuflüstern, sie wären ein Roman, aber man weiß einfach noch nicht welcher. Diese Texte können zu Motoren für ganz andere Texte werden, sie erzeugen am ehesten ganz Andersartiges, selbst erscheinen sie wie Niederlagen, aber rund um sie herum entsteht etwas wie eine kleine blühende Textlandschaft, vielleicht schiebt sich hinter ihnen gerade sogar ein Gebirge hoch, wer weiß? Und dann gibt es wieder andere, die mir sagen, sie seien noch nicht auf der richtigen Stelle, sie sitzen sozusagen noch nicht, und dennoch finde ich diese Stelle, ihren ästhetischen Ort nicht. Stoffe, die ich noch nicht genau verstanden habe, falls man das überhaupt kann. Manches Nichtfertige ruht auf einem persistierenden Unverständnis, auf einer Fortsetzung eines im Moment zu groß erscheinenden Fragekomplexes.
Seit Jahren eiere ich, wie ich das letzte Mal schon erwähnt habe, um Juristen herum. Der Ursprung dieses Herumeierns ist in meiner Fluglärmgeschichte anzusiedeln, erfolgte aus Rechtsanwalts- und europäischen Richtliniengesprächen heraus, aus der Lektüre der Postdemokratieexperten, die mir etwas über Konfliktlinien und Konfliktfelder erzählt haben, weniger über den Fehlermagnetismus und die wandelnde Kraft persistierender Dilemmata, derer sich Autoren annehmen sollen. Was macht Handlungsaufschub und Lösungsvermeidung mit einem Stadtteil, mit einer Beziehung, mit einem Unternehmen? Wie wird die Handlung verteilt?
Und: Wessen Problem ist das dann? Was passiert, wenn durch eine leichte Brennweitenveränderung ein Konflikt gleich ganz anders aussieht, eine andere moralische Färbung annimmt?
Ich scheitere schon beim Erfassen einer einzelnen öffentlichen Auseinandersetzung. Ich wäre auch keine gute Rechtsanwältin. Plädoyers würden mir schwerfallen, weil ich immer das Gegenteil auch für richtig halten würde. Ich interessiere mich für die Gegenseite und dann noch für die andere Gegenseite und dann noch für die andere, denn es gibt meist viele. Und wenn ich im Radio den unterschiedlichen Kriegsparteien zuhöre, den Verwicklungen im syrischen Bürgerkrieg, zuhöre, wie die Nusra-Front, die nicht mehr so heißt, mit Waffen kämpft, die von der Türkei übermittelt, von Saudi-Arabien finanziert, in Osteuropa produziert wurden, und wie sich die Daten deutscher Tornados in das Kriegsgeschehen mischen, dann fasziniert und erschreckt mich die Komplexität der Situation, die unendliche Verwicklung. Die Fronten dieses Krieges sind so unübersichtlich, die andauernd wechselnden Allianzen, die wahrlich durch kein Theaterstück der Welt mehr dargestellt werden können.
Zu sagen, dass man so nie aus einem Roman rauskäme, wäre natürlich obszön, aber klar ist, dass man aus diesem Roman unbedingt rauskommen wollte. Dieser etwas abwegige Gedanke hat etwas mit dem Bemühen um eine Darstellungsform zu tun. Wie kann man diese Welt fasslich machen? Zur Kenntlichkeit entstellen? Oder soll uns die große Politik, die politische Ökonomie nicht mehr beschäftigen? Die Frage nach dem postfaktischen, postdemokratischen, postaufklärerischen Zeitalter, das man so noch nicht bezeichnen sollte, sollte erst einmal als Fehlannahme im Raum stehen bleiben dürfen.
Ja, es sind die Fehler, die mich einstweilen am Laufen halten. Das, was nicht aufgegangen ist, das, was quersteht, die offenen Fragen, sie tragen einen Moment der Wahrheit in sich. Der Riss, der durch die Zeiten geht, geht auch durch die Texte. Das Stottern des Textes sozusagen macht mich aufmerksam, wohin es in ihm weitergehen könnte, was ansteht, etwas, das dringlicher wäre zu thematisieren.
(Und das, was daraufhin folgt, ist dann weniger ein Korrekturvorgang als eine Abzweigung.)
Um Fehler als Teil einer fiktiven Wahrheitsmaschine zu begreifen, stelle ich damit natürlich auch die Frage nach dem Kontext, denn Fehler können nur in einem gewissen Kontext als Fehler begriffen werden, sie sind sozusagen soziale Wesen. Doch welches Wissen wird mit ihnen generiert?
Immerhin wird es keinen Lösungsversuch geben, der in einer einfachen Wiederholung liegt. Die Basis dieser Suche ist auch das Eingeständnis des grundsätzlichen Scheiterns, vielleicht ein Kontrastbild zu jener awareness, von der ich in der ersten Vorlesung erzählt habe, dieser Katastrophenaufmerksamkeitsgymnastik für Unternehmen, die Kathleen M. Sutcliffe und Karl E. Weick entworfen haben, deren größter Feind das Scheitern ist, dieses letzten Tabu der Moderne.
„Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern“, werden Sie mir mit Beckett entgegnen, das sei doch ohnehin deren Literaturprogramm, „wo wollen Sie da noch hin?“ Das wäre mir allerdings zu groß und zu grundsätzlich, ich denke mir, wenn man sich die Funktionsweise von Fehlern in ihren unterschiedlichen Kategorien, ihre Dynamiken ansieht, könnte man etwas erfahren über so manche Kreuzungspunkte zwischen Ästhetik und Politik, zwischen kulturwissenschaftlichen und textimmanenten Ansätzen, vielleicht sogar über unsere Gegenwart. Ich werde also kleinteiliger rangehen, weniger den Fehler als großen Abstrakten suchen, den Schiffbruch, sondern mehr die Fehlerketten, die zu ihm führen, bzw. vielleicht sogar die Aufrechterhaltung der Schifffahrt trotz oder wegen der Fehlerketten befragen. Um in dieser verkehrstechnischen Analogie zu bleiben: Ich stelle mich also mitten auf eine riesige theoretische Kreuzung und beobachte den Verkehr, der vorbeikommt. Der Irrtum ist ein kleiner Fahrradfahrer auf der Brücke, auch der Ausrutscher, der Fehltritt schon ein ziemlich knalliges Motorboot, und da kommt die Aristotelische Harmatia, der tragische Fehltritt, die Verfehlung, ein großer Brummer, eben jenes große Schiff, für das extra die Drehbrücke der Kreuzung geöffnet werden muss, sodass die zahlreichen Fußgänger nicht mehr darüber gehen können, die man mal als Missverständnis bezeichnen würde, mal als Fehlinterpretation. Ein schiefes Bild, sagen Sie? Ja, aber wohin haben uns nicht schiefe Bilder schon geführt? Als schlechte Reibung zwischen zwei Sphären, als fehlende Übertragungsrate zwischen den Semiotiken, als Aussetzer taugen sie manchmal mehr dazu, die richtigen Informationen sinnlich zu vermitteln, ja, manchmal sind sie sogar realistischer als das gelingende Bild. (Hier haben wir wieder Alexander Kluges Realismusbegriff.)
Fehler macht man wie gesagt immer in Kontexten, in denen ein Paradigma von falsch und richtig oder angemessen und unangemessen besteht, was im Zeitalter von Bullshitting vermutlich gar nicht mehr so leicht zu sagen ist. Die Figur des Fehlers ist ja immer enorm bewertungsabhängig, sage ich mir, das wäre zu bedenken, aber vorerst höre ich im Radio etwas, das mich ablenkt und auf einen anderen Gedanken bringt. Es ist eigentlich diese Stimme, sie klingt sehr sympathisch, ist angenehm modelliert und spricht über – aber halt, ist das nicht eine Abschweifung und somit eine Fehlleistung? Und zwar eine sehr zeitgenössische? (Immerhin wurde mir in diesen Sommer ausgerechnet in den USA von Professoren gesagt, die neue Generation an Studentinnen würde weder online noch offline wirklich präsent sein, sie säßen in ihren Sitzreihen, starrten auf ihre Handys, aber seien auch nicht wirklich da drin oder drauf. Sie seien einfach nirgendwo wirklich und stünden zudem unter dem Eindruck, sie würden etwas verpassen.)
„Ich habe das völlig falsch ausgedrückt", höre ich jedenfalls ungerührt diese angenehm modulierte Stimme im Radio weitersprechen, d.h. eigentlich höre ich die Dramaturgin Hannah Hurtzig im Radio über ihren „Schwarzmarkt für nützliches Wissen und Nichtwissen“ sprechen, aber gleichzeitig höre ich auch, wie ich etwas falsch mache. Nicht unbedingt inhaltlich, sondern formal im Sprechen. Die geschmeidige, kluge Art und Weise, wie die Dramaturgin spricht, auf die Fragen ihrer Gesprächspartnerin reagiert, auf welch geläufige und kolloquiale Weise sie im Radio die Geschichte ihres „Schwarzmarkts“ erzählt, machen mir zunächst klar, dass mir diese Geschmeidigkeit abgeht. Erst dann höre ich genauer hin, was Hannah Hurtzig über ihre mobile Akademie und Performanceform, die sie seit 17 Jahren in den unterschiedlichsten Städten quer durch Europa veranstaltet, zu sagen hat, in Graz über die Gabe, in Warschau über Gespenster, in Bern, wie kann es anders sein, zum Thema Geld. Wie sich dieses nützliche Wissen und Nichtwissen über zahlreiche Experten und Expertengespräche organisieren lässt und welche demokratische Funktion ihm zugrunde liegt, dass der Schwarzmarkt ein Postkrisenphänomen ist und dass wir somit in einer permanenten Postkrisenstimmung leben. Sie spricht über den Wissensstrom, in den sie jedesmal in der Vorbereitung hineingesogen wird, Stadt für Stadt, Thema für Thema, dieses Stimmengewirr, das ihr nie zu viel wird.
Und da passiert es, dass mir klar wird, dass ich meine Recherchegespräche vermutlich auch deswegen mache, weil ich sie selbst nicht von Anfang an so elegant führen kann. Weil ich meine Rede nicht so gut organisieren kann wie Hanna Hurtzig, weil ich nicht wirklich auf das reagiere, was man mir sagt, und ich das bewundere, wenn man die Dinge anschaulich, theoretisch fundiert artikulieren kann und gleichzeitig wirklich eine Antwort auf eine Frage bietet und nicht nur Monologe hält. In meinen eigenen Recherchegesprächen klaue ich mir sozusagen die Gesprächsfähigkeiten anderer Leute, kopiere sie, nehme sie vampiristisch auf. Auch das Nichtstottern habe ich dabei mitgeklaut, denn eigentlich stottere ich. Der andere aber stottert nicht, und so beginne auch ich, nicht zu stottern, so einfach kann das manchmal sein. Ein Nichtstottern und Glattziehen der Sprache ist bei mir sozusagen immer fremdbestimmt, das Stottern ist der Kommunikationszustand, der mir plausibler erscheint, und dieses Gefühl hält meinen ganzen Schreibtisch besetzt.
Aber eigentlich bin ich über Umwege zum Stottern als Thema gekommen, über die mediale Situation des öffentlichen Gesprächs, über seine mögliche Inszenierung als authentisches Merkmal der Rede in der filmischen Dogma-Bewegung der 90er und umgekehrt über seine Vermeidung als Teil einer Performance der self effectiveness der Unternehmensberater. Also eine der Glaubwürdigkeit im öffentlichen Auftreten gleich abträgliche Angelegenheit. Ich hatte diesen Moment, in dem ich es einfach zu fassen glaubte und zu einem sowohl medialen wie ästhetischen Phänomen machen wollte jenseits seiner pathologischen Umklammerung.
Inzwischen ist mir klar, dass niemand so genau weiß, was Stottern jenseits seiner pathologischen Umklammerung dann so genau ist. Man hat mir zwar gesagt, was alles kein Stottern ist: Schwitters „Ursonate“ ist kein Stottern, Stoibers Stammeln ist auch kein Stottern, auch wenn es politisch interessanter ist als das Stottern von Malte Spitz. Das Dauerstolpern durch den Text von Helge Schneider ist schon mal gar kein Stottern. Bei der Punkband „The Fall“ kann es sich schon gar nicht um Stottern handeln, weil der Typ doch glatt spricht, auch wenn es ein so abgefahrener verzerrter Gestus ist, so ein sprachlicher Druck auf seiner Stimme lastet, dass der Sänger Mark E. Smith andauernd aus der Kurve zu fliegen scheint und sich selbst doch wieder einholt, auch wenn das Album „perverted by language“ heißt.
Man hat mir gesagt, dass es gewisse Dinge braucht, damit es sich um echtes Stottern handelt, denn ich habe mein Nachdenken über dieses Phänomen nicht alleine unternommen, wo kämen wir da hin? Man kann nur im Gespräch über Stottern nachdenken, am besten im öffentlichen Gespräch, und so habe ich mich in Frankfurt mit dem Literaturwissenschaftler Christian Metz und dem Popjournalisten Klaus Walter hingesetzt, ich habe mich in Leipzig mit dem Dramatiker Wolfram Lotz darüber unterhalten und versucht, diesen Befreiungsversuch aus der pathologisierenden Umklammerung zu unternehmen und gleichzeitig der Gefahr einer Romantisierung zu entkommen – auch etwas, das nur im Dialog vermieden werden kann. Ich habe mich an die Universität Cornell in Upstate New York begeben, denn das amerikanische Stottern ist sicherlich ein anderes als das deutsche, das sich ja schon extrem vom österreichischen Stottern abhebt. Stottern ist ja in Österreich etwas Erwartbareres, zumindest in den nördlicheren Gebieten Deutschland etwas Ungewöhnliches. Ob es am Protestantismus liegt? Am Katholizismus? Ob es an der fehlenden Aufklärung oder an einer gewissen Form von Aufklärung liegt? Stottern findet ja in einem gewissen Rahmen statt, einem historischen, aber auch einem medialen.
Die öffentliche Rede hat sich in den letzten vierzig Jahren derartig verändert in Richtung Quasseln, Quatschen, Nur-frei-heraus-Sprechen, sie ist in Richtung Selbstinszenierung gegangen und in die der spürbaren Inszeniertheit von ihrer Brüchigkeit als Möglichkeit einer permanenten Selbstdistanzierung. „Ich meine es ja nicht so.“ Eloquenz sieht heute anders aus als noch vor einigen Jahrzehnten. Dazu kommt, dass der ganze mediale Rahmen sich ökonomisiert hat und Aufmerksamkeit, symbolisches Kapital oft mit realem einhergehen. Authentizität hat an Wert gewonnen, ist sozusagen eine begehrte Ware im medialen Strom. Als inszeniertes Phänomen ist Stottern darin willkommen, als Uninszeniertes absolut tabu – Sich zu verkaufen ist wichtig, sich selbst günstig darzustellen Bestandteil einer neoliberalen Ökonomie.
Geht es um etwas, also hat man ein sogenanntes Thema, soll niemals in einem öffentlichen Gespräch auf die Redesituation verwiesen werden, es wird an der guten, alten Illusion des direkten, heute beinahe intimen Gesprächs gearbeitet, das vergessen macht, dass da jemand spricht, der vielleicht vorher noch über seine Äußerung nachgedacht hat. Der Formierungsprozess der Rede muss verschwinden.
Als popkulturelles Zeichen ist Stottern seit langer Zeit, vielleicht seit „My generation“ von The Who durch alle möglichen Musiken und Filme unterwegs gewesen, ob bei David Bowie, Woody Allen oder in satirischen Reaktionen auf Ansprachen von Edmund Stoiber. Ein Zeichen, das nicht notwendigerweise auf einen Sprecher verweist, sondern auf eine ganze Situation. Ein grundlegendes Stottern sozusagen, wie es Gilles Deleuze in seinem Text über das literarische Stottern in „Kritik und Klinik“ entwirft.
Aber zunächst sitze ich noch am Podium mit Wolfram Lotz, der sagt: „Zu viel muss gesagt werden, und man bringt es einfach nicht unter.“ Dieser Satz leuchtet mit sofort ein, aber was heißt dieses „Zuviel“? Ist es eine reine Frage der Text-Ökonomie? Ist es das Gefühl, über zu wenig Zeit zu verfügen und das alles erst einmal auf die Reihe bringen zu müssen? Oder ist es vielmehr das Bedürfnis, alles gleichzeitig zu sagen, dann wäre es auch gleichzeitig wahr, quasi antihierarchisch gedacht? Ist es dieser Kampf gegen die Diachronie der Sprache oder das Bedürfnis, viele zu sein, ein Chor, wie es vielleicht Einar Schleef unternommen hat?
Und was ist mit dem schrecklichen Gefühl, das bei Zuhörern entsteht, wenn sie dem Stotterer begegnen und immer mithelfen wollen bei dessen Rede, sodass sie ihren eigenen Standpunkt total verlassen? Was macht das Stottern mit dem Nichtstotterer? Was für eine Kommunikation ist das? Diese Frage nach der kommunikativen Situation des Stotterns hat Gilles Deleuze weniger interessiert, er justiert Stottern als sprachphilosophische Größe, als Minorisierungsbewegung der literarischen Sprache, als grundlegend ästhetische Fragestellung, die eben nicht Bestandteil eines Stils sein kann, nicht voluntaristisch von Schriftstellern hervorgebracht werden, und er setzt sie natürlich gegen ein bestimmtes strukturalistisches Verständnis von Sprache. Stottern ist seine theoretische Revolte.
Dass Deleuze die affektive, intensive Sprache, die stottert, interessiert und nicht die Affektion dessen, lässt ihn sein Augenmerk auf das Entfliehenlassen der Sprache legen, die Hexenlinie, auf der sie davonschießen darf im Stottern. Schriftsteller kreieren eine Fremdsprache, die sie aus der eigenen Sprache herausschneiden, eine unbekannte Sprache aus der immer schon bekannten, in der man stammelt, stottert, murmelt.
Und insofern ist auch weniger die genaue Definition des Stotterns entscheidend als vielmehr die danach, was Stottern mit diesem Stammeln, Murmeln, Wispern, Schwanken, der gestischen Zerfahrenheit von Sprache verbindet, Gangarten: Taumeln, Trudeln, Leiern, stehen damit in Verbindung, der gestörte Fluss, die unterbrochene Dynamik. Vielleicht lässt sich ja auch ein ästhetisches Alphabet daraus gewinnen, eine grundsätzliche Ästhetik?
Die unterschiedlichen Verfahren des literarischen Stotterns, die Deleuze hier am Beispiel des Lyrikers Gherasim Luca, Samuel Becketts, Dantes, Ossip Mandelstams und anderer nachzeichnet, die von der Blockbildung bis zu den Disjunktionen der Rede reichen, eröffnen den Blick auf ein kompliziertes sprachliches System, als würde sich über das Stottern die literarische Sprache selbst zeigen. Man kann es mit intakten Wörtern tun oder, indem man sie auseinanderreißt, inmitten der Sätze rhizomatische Wucherungen wachsen lässt, Parenthesen setzt. Es gibt syntaktisches Stottern, vertikales und horizontales.
Beim politischen Stottern, das wir derzeit erleben, fällt es mittlerweile nicht leicht, es noch auszumachen, weder im technokratischen Leerlauf der Rede noch im glatten Rumpeln der rechtspopulistischen Äußerungen. Stottern muss ja immerhin auffallen, könnte man etwas spitz anmerken. Gleichzeitig hat man ja immer noch das Gefühl, man müsste den Politikern zurufen: Stottert mal ein bisschen mehr, vielleicht würdet ihr die Dinge dann anders begreifen?
Glätte ist Macht, will ich dann weiterrufen, was aber fange ich mit jener Anekdote über den Berliner Museumsdirektor an, der vor 500 Leuten wunderbar glatt sprechen konnte und nur gestottert haben soll, wann immer er sich im persönlichen Gespräch befand, weil ihn die Wahrscheinlichkeit, darin einem Widerspruch zu begegnen, so aufgeregt habe? Gibt es also auch ein mächtiges Stottern, ein bewusst asoziales? Eines, das aus einem Roman von Balzac rausspringen könnte, der Kaufmann in „Eugénie Grandet“ , der bewusst stotterte, um einen Vorteil rauszuschlagen, um Zeit zu gewinnen, um den anderen in Sicherheit zu wiegen, er hätte es mit einem schwächeren Gegenüber zu tun? Diese Frage macht Schluss mit der Romantisierung der Fehler als Rettungsanker. Der Fehler schafft nicht das Gute, er ist instrumentalisierbar, aber das ist ja die Figurenebene, unterbreche ich mich selbst, auf der Deleuzeschen Textebene sieht es anders aus. Und ist nicht die Kleistsche Tugend der allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Sprechen dem unkalkulierten Stottern verwandt? Sie scheint das Gegenkonzept zu jener Rede der personal effectiveness zu ergeben, die immer schon mit fertig ist, wenn man sie beginnt.
Aber mein Hauptproblem ist ja vermutlich tatsächlich eher ein ökonomisches, bemerke ich langsam: Ich möchte einen Gedanken zu Ende führen, einen Satzbau beenden, doch ich kann nicht, einerseits, weil mir, wie Wolfram Lotz sagte, zu viel durch den Kopf schießt, weil die unterschiedlichen Ordnungen der Diskurse sich nicht mehr synchronisieren lassen, Gegenläufigkeiten, Widersprüchlichkeiten zu einem Kontrollverlust führen. Ich kann mich nicht einholen, denke ich mir, während neben mir immer noch ganz ruhig Hannah Hurtzig spricht, im Moment über Klatsch und Tratsch und Gossip als Widerstandsform. Ich hole Luft. Und frage mich:
Was hat man eigentlich davon, mit Experten zu sprechen? Was macht man mit Geheimnisträgern, und wie kann man überhaupt zu ihnen durchdringen im Gespräch? Und: Ist das Gespräch nicht per se eine Fehlerquelle? Geht es dabei nicht in Wirklichkeit darum, auch einmal den Faden zu verlieren? D.h. den Faden scheinbar zu verlieren und dann doch wieder zurückzuerobern. Zuerst falle ich aus meiner Zeitlichkeit heraus, dann gewinne ich sie wieder und markiere sie dadurch umso mehr. Im Zeitalter des Präsenzgebotes und des Aktualisierungswahns nicht unwesentlich. Auch das ist bekannt: Fluchtlinien hinaus aus dem Thema sind manchmal brauchbarer als die themenförmige Abschließung. Würde ich den Faden gänzlich verlieren, kommt es zu Anschlussfehlern, ich würde rauskippen aus meinem Kontinuum, meiner zeitlichen Integrität. Eine Fehlleistung des Diachronen, dem Stottern verwandt, eine Problematisierung der Zeit und der eigenen Dynamik. (Sie steckt auch in der Metapher des Flusses, die das ökonomische Denken so sehr prägt und mit deren Metaphorologie sich Hans Blumenberg (in „Quellen, Ströme, Eisberge“) so lange beschäftigt hat, sie quasi zum Basislager philosophischer und ideengeschichtlicher Bewegungen erklärt hat, und die ich heute schon mehrfach aufgesucht habe.)
Aber etwas von mir ist noch bei der Radiosendung über nützliches Wissen und Nichtwissen und denkt darüber nach, dass man sich ja üblicherweise immer damit vorstellt, was man kann, wo es doch viel interessanter ist zu sagen, was man alles nicht kann: z.B. Interviews führen, Geräte richtig bedienen, Menschen nach dem befragen, was sie erzählen wollen, oder auch nach dem, was ihnen noch nicht zur Verfügung steht. Fakten abgleichen, um einen Artikel wasserfest zu machen, Sätze auf der 8-Wortlinie halten, Kontexte beherrschen, Content akquirieren, Gedanken streichen, Begriffe ganz bewusst weglassen, nicht zulassen, dass sie sich immerfort hereindrängen – wie „postfaktische Gesellschaft“ –, sofort wissen, wann ich jemandem auf den Leim gehe, die Fakten unterstreichen, die Wahrheit sagen, subtil Narrative bedienen, manipulative Sequenzen fortsetzen, und natürlich kann ich das eine oder andere von Zeit zu Zeit. Es mag kokett wirken, als Schriftstellerin an dieser Stelle von den Nichtfähigkeiten zu erzählen, aber tatsächlich muss ich bei der Arbeit jede Menge verlernen, immer wieder vor einer Fähigkeit die Abzweigung nehmen und mich schnell verdrücken. Darunter befinden sich auch temporäre, kontextbezogene Nichtfähigkeiten. Sie können Keimzellen des Widerstands sein. „Plötzlich konnte ich das nicht mehr.“ Das ist das Zeichen der Wende, nicht?
Fehlerquellen in der menschlichen Kommunikation gibt es viele, das beginnt im Spracherwerb, wo man beispielsweise im Englischen zwischen error (dem nicht wissentlich gemachten) und mistake (dem auf eigentlichem Wissen beruhenden Fehler) unterscheidet, und geht dann bis in die hohe Kunst des sauber gepflegten Missverständnisses. Nicht kommunizieren zu können, zu stottern, plötzliche Redundanzen zu erzeugen, die falschen Bilder anzubringen, Katachresen, in einer Unverständlichkeit sich zu verstecken, sind Teil eines sozialen und politischen Prozesses. Es kann historischen Situationen geben, da hat man den Eindruck, als würde sich die Sprache selbst wehren. Die grammatischen Regeln, die plötzlich wegbrechen, die Missverständnisse, das falsches Aufgreifen und Implementieren finden in einem hegemonialen Raum statt – Und das ist das Wunderbare an Sprache: Der eigenen Logik zu widersprechen, das gelingt nur ihr so logisch.
Aber warum ist das alles fürs Theater so interessant? Warum finden wir im performativen Feld heute andauernd diese Markierungen des Fehllaufens von Kommunikation? All diese Volksbühnenselbstbezüglichkeiten der letzten 30 Jahre! Ist es ein inszenatorisches Plus an Information, das wir erhalten, eine Textverdichtung durch das, was alles in die Performance hineingepackt wird, oder ist es ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber der Sprache, das stets neu wiederholt werden muss? Und was machen wir mit jener uneigentlichen Rede der Rechtspopulisten, die mit gegenläufigen Gesten das Gesagte unterstreichen? Die dann das gar nicht gesagt haben wollen, der Justiziabilität dadurch entkommen, aber jeder hat verstanden. Sie produzieren keine Fehler, im Gegenteil, man wartet auf die Fehlleistung, die wie ein guter Witze, da muss man Freud nicht gelesen haben, ein Korrektiv darstellen könnte. Aber sind Fehler wirklich erst einmal antitotalitär, auch wenn sie für Machtzwecke instrumentalisiert werden können?
Das Problem all dieser Kennzeichnungen einer fehllaufenden Kommunikation ist ihr Ornamentcharakter, denn natürlich gibt es Verabredungen, Erwartungen, durch Sprache direkt ausgetragene Konflikte, gefühlte Rechtssicherheit, in den Rängen der Macht wird schon mal Klartext geredet, etwas, was dann durch eine postdramatische Haltung beinahe negiert werde, wie Bernd Stegemann in seinem „Lob des Realismus“ zeigt, es gibt eine Verliebtheit in den Fehler, der auch antiaufklärerisch ist.
Und wenn ich erst einmal durch einen gewissen Berg an Fehlern durch muss, werde ich abgelenkt und sehe vermutlich gar nicht mehr den einen großen Fehler, die Verfehlung, der zeitgenössische Held wird zum Clown, die berühmte Fallhöhe spielt keine Rolle mehr. Wo bleibt das Schaudern, das mich laut Aristoteles ergreifen soll? Seine Dramentheorie räumt ja dem Fehler eine handlungskonstitutive Rolle ein, nur durch ihn kommt das tragische Geschehen in den Gang. Es sei allerdings entscheidend, dass diese Verfehlung nicht alleine aus dem Charakter des Helden wächst, sondern aus dem Schicksal, was klar macht, dass es nicht darum gehen kann, etwas nicht zu können. Aus der Verfehlung kann ich mich auch nicht alleine befreien. Ist das Nichtwissen von Ödipus nicht ein anderes Nichtwissen als das organisierte, das uns heute so in die Quere kommt?
Die meisten bisher beschriebenen Fehler sind diachron, sie stören den Fluss, liegen quer, es gibt aber auch die Kategorie des Fehlers, die im Synchronen beheimatet ist, als fehlender oder falscher Kontext. Etwas ist falsch in diesem Bild, dachte ich mir im September, als auf einer Busfahrt plötzlich die New Yorker Skyline über einen Hinterhofzaun sichtbar wurde, über dem Marschland bei Newark, das sich visuell zu widersprechen schien, was aber keinen falschen Kontext, sondern nur einen Kontrast darstellte. Für den falschen Kontext braucht es schon Menschen. Sind Displaced Persons falscher Kontext wie Rechtspopulisten sagen würden? Wer gehört noch wohin, wie will ich das festschreiben und mit welcher Begründung?
Der falsche Kontext bezeichnet ein soziales Ereignis, das an dieser Stelle nicht stimmt, an anderen aber vermutlich sehr wohl. Der Fehler wird zur Frage des Ortes. Eröffnet wird die Diskussion, wie man den falschen Raum für eine Gesellschaft herstellt, die falsche Vorstellung von Territorium, aber auch von der Szene. Was umfasst sie, was gehört nicht zu ihr? Gleichzeitig wird sie zu einer Frage nach der Figur, die vielleicht dem falschen Gefühl anheimfällt, dem Sentimentalen, dem Ressentiment. Die Figur, die die Begegnung mit den anderen stets verfehlt. Waren Becketts Figuren so? Sind Polleschs Figuren heute so? Und warum stottern diese so viel?
Es gibt ja auch den falschen Film. Oder vielmehr gab es ihn als Lebensgefühl der 80er. Das alltägliche Gefühl, im falschen Film zu sein, war damals Generationenausdruck, heute ist man ja in einem gewissen Sinn andauernd in mehreren falschen Filmen gleichzeitig, sodass diese Bezeichnung ins Leere läuft. Und dennoch, wie bringe ich das auf den Punkt, dass ich mich ganz biblisch in diesem Jahr dreimal geirrt habe und mich tatsächlich wieder auf einem falschen Film fühlen kann?
Wie würde ich den beschreiben? Vermutlich erst einmal in der Zeitlichkeit seiner Wahrnehmung. Zunächst stimmen Einzelheiten am ganzen Bild nicht, die darauf hindeuten können, dass man irgendwo hineingeraten ist, was unerklärlich scheint. Die Bezüge stimmen einfach nicht mehr. Ist man in eine Borgesartige Erzählung geraten, oder steht man nur in einem Stadtviertel, das sich qua Gentrifizierung über Nacht verändert hat? Denn diese Leute, die da plötzlich wohnen, quasi von einem Tag auf dem anderen, sind einem komplett fremd. In einer Behörde werde ich ganz anders behandelt, als ich es erwartet hätte, meine Rechte beschnitten, mein sozialer Status falsch eingeschätzt. Es ist das Gefühl der Entfremdung, des Herausgerissenseins, der plötzlichen Kontextlosigkeit und meist verbindet es sich mit einem Akt der Gewalt.
Am deutlichsten wird der falsche Film in jenen Situationen mit krassen Menschenrechtsverletzungen. „I didn’t get it!“, ist der wiederholte Satz in Rithy Panhs Film über die Ereignisse im Arbeitslager in Kambodscha zur Zeit des „Steinzeitkommunismus“. Die Opfer von krassen Menschenrechtsverletzungen berichten immer wieder zunächst von Interpretationsschwierigkeiten. Sie konnten nicht glauben, was sie sahen. Die unendliche Mühsal, die es bedeutet, Zeugenschaft abzulegen, wie ich es letzte Woche beschrieb, ist eng mit diesem Motiv des falschen Films verbunden. Carolin Emcke schreibt in ihrem Buch „Weil es sagbar ist“ darüber, wie merkwürdig es für sie war, von einem kosovarischen Flüchtling immer wieder erzählt zu bekommen, dass er eben gerade teure neue Schuhe gekauft hatte, als seine unheilvolle Fluchtgeschichte begann. Die Schuhe begleiten ihn durch seine Erzählung, wirken erst einmal wie ein fremdes Detail seiner Geschichte, seines falschen Films, sie markierten geradezu seine Befremdung. Zeugenschaft abzulegen besteht vielleicht gerade darin, diese Kennzeichnung des falschen Films zu unternehmen: die Unvorstellbarkeit nicht rhetorisch zu wiederholen, sondern anschaulich zu machen. Dass ich jetzt massakriert werden soll, verdinglicht, entsubjektiviert, das kann mir nicht passieren. Aber auch werdenden Tätern kann es so ergehen, wie man an Errol Morris’ „Standard Operating Procedure“ über die Geschehnisse in Abu Ghraib 2003 erfahren konnte. Immer wieder beginnen die Gesprächspartner im Film, allesamt Beteiligte an den Gräueltaten, mit der Erzählung, wie es war, an diesem Ort anzukommen. Sie traten in ein Zimmer ein, in dem etwas geschieht, was sie nicht glauben können: „Und das soll also normal sein?“ überdeckt ein wenig das „Was ist das für ein Ort hier?“. Es sind Einordnungsprobleme, die im Rückblick jene Grenze, jenen Eintritt in diesen falschen Film markierten. Der Zeuge liegt immer falsch, er bleibt der Fehler, zu dem er durch die Situation gemacht wurde.
Zu dem falschen Film gehört auch die Parallelfigur, die Parallelfamilie, das Parallelpaar, die Parallelangestellten und Parallelpatienten, die es alle besser machen. Vergleichsmenschen eben, die es irgendwie hinkriegen oder die etwas verstanden haben, was ich eigentlich nicht einmal verstehen möchte. Ich möchte ja eher raus aus dem falschen Film, ich suche einen Ausgang. Ist der falsche Film bei der Figur des Johann Holtrop von Rainald Goetz (ich habe in der ersten Vorlesung über den Roman gesprochen) deswegen gegeben, weil wir als Lesende das moralisch verurteilen, was er vertritt? Oder ist er ein systemimmanenter Fehler? Kommt der Held nur qua Selbstpathologisierung aus dieser Situation raus? Ein Krankheitsschub, der irgendwohin führt, wie man mit Gregory Bateson und seinem „Schizophrenie und Familie“ formulieren müsste. Wenn die Kraft für die Bewertung von etwas als falschem Film nicht ausreicht, dann bleibt nur die Krankheit.
Umgekehrt überbieten sich die dysfunktionalen Situationen und Nichtanschlüssen leider derzeit auf kollektiver Ebene und lassen etwas für viele notwendig erscheinen, was man als die künstlich Konstruktion des richtigen Films bezeichnen würde, ob als Vaterland, als homogene kulturelle Identität. Er bedarf dann scheinbar nicht der Übersetzung wie sie für einen falschen Film notwendig wäre.
Fehllaufende Übersetzungen sind auch ein interessantes Fehlergeschehen. Sie gehören in jene dritte Kategorie des Fehlers, die den Fokus auf die Fehlerdynamik legt, die vermutlich am schwierigsten zu beschreiben sind. Die Fehlerketten, die aus einem Missverständnis entstehen. Der Bias aufgrund einer falsch getroffenen Entscheidung, an der man festhalten muss, um sein Ego zu schützen. Immer tiefer gerät man in das Schlammassel hinein, weil es zu viel bedeuten würde, es zu korrigieren. Ich bleibe auf der falschen Spur. Was passiert aber, wenn ich etwas nur noch im Griff habe, zwanghaft mich an den Nichtfehler halten muss, der in einer Ästhetik des Fehlers natürlich nicht fehlen darf?
Die Kategorie der Fehlerkette in einem Text aufzuspüren, ist nur auf den ersten Blick einfach. Sprachliche, grammatische Fehler wird man finden, aber sind es auch ästhetische? Sie können immerhin eine Reibung der Systeme markieren. Etwas funktioniert auf einer Ebene nicht, auf der anderen aber ist er durchaus sinnvoll, er macht, um es im Umgangsdeutsch zusagen, Sinn. Viele Autoren und Autorinnen arbeiten damit: z.B. Elfriede Jelinek, um nur ein gutes Beispiel zu nennen, Oskar Pastior, Ernst Jandl, Valère Novarina. Die fehlerhafte Anwendung des drastischen direkten Jelinekschen Bildes, ihrer Wörtlichkeit wirkt wie eine ständige Freudsche Fehlleistung, ein Abarbeiten der zugrundeliegenden Aggressionsenergie, die uns aufgezwungene Verdinglichung meldet sich permanent zurück, es führt aber kein Weg hinaus ins „normale“, fehlerfreie Sprechen. Vielleicht möchte man aber auch sehen, wie es mit den Fehlern weitergeht? Kann man süchtig nach Fehlern werden? Erzeugt die Serialität von Fehlern wie in einem TV-Serienkult die Hoffnung auf ein Weiterfortlaufen?
Die geschichtliche Persistenz eines Fehlers kann ja auch faktenschaffendes Gewicht bekommen. Wenn über Generationen etwas auf eine Weise beurteilt wurde und es deswegen als richtig gilt. Es gibt Fehlwahrnehmungen, die verschwinden und plötzlich doch wieder auftauchen, lange, nachdem man sie korrigiert hat. Der Feminismus kann sozusagen ein Lied davon singen. Etwas wird in der kollektiven Wahrnehmung wieder ausgespart, was zumindest eine Weile gesehen wurde. Ein Backlash, der Rationalitäten unterläuft, der den Prozess der Aufklärung revidiert, ihn vielleicht ad absurdum führt. Unter diesen Umständen wäre es vielleicht wirklich besser, Texte in schlechtem Englisch, schlechtem Deutsch, schlechtem Französisch zu schreiben. Vielleicht wird es schon bald in Zukunft wieder darum gehen, das Richtige zu verweigern.
Die Referenz des Richtigen wächst oftmals an der Aufforderung entlang, möglichst nah bei den Fakten zu bleiben, aber wir wissen, dass das falsch sein kann, wenn der Fokus zu klein ist. Beobachte ich nur einen Ausschnitt des Geschehens und blende den größeren Zusammenhang aus, entsteht ein falsches Bild. Der Fehler liegt also auch in der Frage von Schärfe und Unschärfe.
Aber es ist auch bekannt, dass gezielt gesuchte Unschärfe zu einer Schärfe auf einer anderen Ebene hilft. Gewisse Begriffsklärungen, die mich stets auf ein Feld verweisen, dem ich zu entkommen suche, werden mich nicht interessieren, ich lasse sie im Dunkeln, auch wenn ich notwendigerweise mit ihnen noch hantiere.
Wäre das ein Imperativ: Halte deine Undeutlichkeiten im Griff, organisiere sie wie dein Nichtwissen, sei schludrig, aber wisse, was du tust? Es klingt paradox, aber sich von dem Gefühl, seinen Kontext nicht wirklich im Griff zu haben, nicht terrorisieren zu lassen, ist eine Tugend, die manchmal auch Fähigkeit zur Entscheidung genannt wird. Wann kippt sie um in einen Voluntarismus? Gezielte Unschärfen kennt jeder in der Wissenschaft, aber auch in der politischen Rhetorik ist es das Einschwenken auf Allgemeinplätze. Etwas auf Dauer nicht scharf stellen zu können, ist allerdings eine dynamische Fehlleistung, als würde man einen blinden Fleck mit sich herumtragen, der alles an dieser Stelle erfasst, mit Unschärfe infiziert. Erst der Wunsch nach Klarsicht macht daraus einen tragischen Akt, wenn er sich mit der berühmten Fallhöhe verbindet.
Meine Damen und Herren, ich habe mit den offenen Rechnungen begonnen, mit dem Gefühl, dass etwas übersteht, eine ästhetische Verfehlung begangen zu haben, die natürlich weder tragisch noch jammervoll ist, aber meine Arbeitsbewegung in Gang setzt. Am Schluss muss allerdings die Frage nach der Konsequenz stehen.
Wenn sich aus einem tragischen Fehler keine Konsequenz mehr ergibt, aus Machtgründen, aus historischen Gründen, weil sich das System geändert hat, dann stecken wir in einem Albtraum fest.
Das Motiv der Straffreiheit ist es, das mich seit längerem fasziniert, es ist für Gesellschaften wie für einzelne Personen verheerend. Der Konsequenzlosigkeit wohnt eine große Zerstörungskraft inne, die wir bereits zu ermessen beginnen, aber noch nicht wirklich erschöpfend untersucht haben. Vielleicht muss man sie auch immer wieder neu untersuchen? Es wird bereits öffentlich gelogen, unterstellt, sogenannte Fakten in die Welt gesetzt, die keine sind. Es finden Manipulationen und Bestechungen auf höchster Ebene statt, die folgenlos bleiben. Die amerikanische Wahl ist nur ein Beispiel von vielen. Aber ist das Gericht, das Donald Trump durch über 500 Prozesse beschäftigt hält, das einzige Gegeninstrument, das uns bleibt?
Eine Ästhetik des Fehlers wird sich auch mit seiner sozialen Auflösung beschäftigten müssen. Umgekehrt könnte man das Ende des Sozialen auch dahingehend definieren als Situation, in der keine Fehler mehr zu machen sind.
Insofern kann ich hier damit schließen, dass Literatur gottseidank nie fertig ist, nie zu einem Abschluss findet und wir gottseidank alle nicht wirklich aus den Texten rausfinden, so wie wir aus einem Prozess herauszufinden versuchen, das müssen die Autoren und Autorinnen zuerst, damit auch die Leser und Leserinnen drin bleiben können, zumindest ein Stück weit.
© kathrin röggla, 2016