die furchtbaren längen
1. verschwörung
“do you know, that I think, the movies are a conspiracy? I mean, they are actually a conspiracy, because they set you up. they set you up from the time you are a little kid.. they set you up to believe in everything … in ideals and strength and good guys and romance …”(1)
man sieht arbeiter durchs wasser eines kanals waten. sie bewegen sich nur sehr langsam, da das wasser ihnen beinahe bis zur hüfte geht, und sie müssen es auch immer wieder von den händen schütteln aufgrund der ausgleichsbewegungen, denn der untergrund ist unsicher. schließlich helfen sie sich gegenseitig an land und fahren gemeinsam auf einem pickup zum „crest cafe“.
anderer ort, andere zeit. auch hier arbeitet sich jemand langsam durch einen raum. es ist eine bar. es wird getanzt, es herrscht ausgelassene stimmung. menschen mit geschlossenen augen, menschen mit offenen augen. es wird geklatscht, es wird gerufen, und immer noch arbeitet sich der junge mann durch den vollen raum, um sich letztendlich mehr in ein eck zu drücken, als sich dort zu positionieren. man sieht, er will nicht teil der feiernden menge sein, er beobachtet.
oder: jemand, ein mann mit weißem jacket, verläßt einen nachtclub. er stellt sich kurz neben den türsteher, wechselt mit ihm ein paar worte, geht dann die straße entlang, dreht sich plötzlich um, wohl weil er ein auto kommen hört. er sieht einen pickup vorbeifahren, auf dessen ladefläche junge menschen stehen, die rufen und ihm zuwinken. ausgelassene. er nickt ihnen nach, entscheidet anders und geht zurück zum eingang des nachtclubs.
schnell ist man in einem film angekommen, den man für den eigenen hält. es ist der film, der uns alle umgibt, aus dem man nicht so einfach rauskommt, der alltagsfilm. was kann man in diesem film machen? man kann aus einem auto springen und um es rumlaufen. und wenn man zu spät kommt, um der beifahrerin die tür aufzuhalten, kann man sie kurz anlächeln, um dann gleich wieder ums auto zu laufen, dem besitzer des wagens hinterher und ihm die tür aufzuhalten. man kann ein trinkgeld entgegennehmen und noch kurz das fenster polieren. man mag das für angemessene höflichkeit halten.
man kann sich sein jacket aufknöpfen, während man die treppe runtergeht, am portier vorbei und sich begrüßen lassen, sich das „good morning, mr. forster!“ aber erst gar nicht anhören, sondern sich gleich auf einen sessel im screening room setzen und zu der sekretärin, die einem kaffee anbietet, sagen: „you look lousy!“ das kann man machen: ja, zuerst einen kaffee ablehnen, um ihn dann nochmal zu bestellen, als wäre er einem nicht eben angeboten worden. man mag gefallen daran finden, schwierig zu sein.
oder man kann in einem diner sitzen und sich nach der kellnerin umdrehen. man kann sich fragen, wie oft man sich hier nach einer kellnerin umdrehen muß. nein, das kann man sich nicht fragen, weil man schon wieder zugequatscht wird, weil man schon wieder von diesem schrägen vogel, der einem gegenüber am nachbartisch sitzt, was zu hören kriegt: „everyday people, that’s what’s wrong with this world. we ought to get rid of them.“(2)
was wird man aber vernünftigerweise tun, wenn man in so einem alltagsfilm aufeinandertrifft?
- vernünftigerweise wird man sich erst einmal witze erzählen, denn witze müssen immer möglich sein. - und nicht nur das, man kann man kann das witze erzählen beschleunigen. zuerst den mittelteil auslassen, dann die pointen und letzten endes muß man sie nur noch beim namen nennen.
- und dann?
- danach kann man immerhin etwas singen. oder zu dritt tanzen -
- was dann möglicherweise zu einer kleinen rangelei führt.
- nun, vielleicht wird dabei einer plötzlich böse werden und einen bloßstellen wollen oder man wird angebrüllt und brüllt zurück.
- man wird jedenfalls ziemlich schnell in schwierigkeiten geraten.
ja, wenn man sich länger in diesem film aufhalten möchte, wird man schleunigst lernen müssen, wie man mit schwierigkeiten umgeht. denn man wird ja nicht nur andere antreffen, man wird sich ja auch selbst antreffen, wie man z.b. lange keine idee hat, wie man eine schuld zurückzahlen soll - zu lange keine idee hat. oder wie man sich in einem raum mit vier frauen aufhält und sich zwischen unsicherem lachen und sicherem lachen nicht entscheiden kann. vielleicht weil die eine frau einen gerade geohrfeigt hat, die andere einen dauernd bedrängt, die dritte eine höfliche konversation will und die vierte jetzt eben einfach nur beleidigt sein möchte. man wird erstmal mit einem weiterem lachen fortfahren und vielleicht deswegen auf die bemerkung, daß man doch ein komischer kerl sei, sagen: “I don’t think of myself as funny. if you think you are funny, you become tragic. you have too many pressure to be funny. you think you should be funny all the time.”(3)
aber das ist ein anderer film. in diesem wird man nicht immer wissen, daß man nicht die ganze zeit über komisch sein kann, oder wie lange man komisch sein kann, jedenfalls wird man mit sicherheit den richtigen moment verpassen. in diesem alltagsfilm wird man sich ständig in situationen wiederfinden, die eine uneinschätzbare dauer haben, man wird in jene furchtbare längen geraten, situationen, die weitergehen ohne einen und gleichzeitig mit einem, und es ginge einzig darum, einfach ein wenig das gleichgewicht zu halten. doch gerade das wird man vergessen haben. man will es ja wissen, und deswegen wird man lächerlich aussehen wie der kleistsche tänzer, man wird den wettbewerb gegen die marionetten immer wieder verlieren und stolpern, ja man wird eher überhaupt so stolpern, so wie es aussieht. zum beispiel im dunkeln die treppe hinunter und in ein taxi hinein, weil man etwas zuviel getrunken hat, weil der gleichgewichtsinn gestört ist, und weil - ach weiß der himmel ! ja, weil man eben festgestellt hat, daß das kino eine verschwörung ist.
„so you believe it, right? you grow up, you start looking. it doesn’t happen, you keep looking. you get a job like us, and you spend a lot of time fixing your things, your appartment and … and you learn how to be feminin, you learn how to cook … but the movies set you up. they set you up. and no matter how bright you are, you believe it.”(4)
2. im film ankommen
alexander kluge sagt, die zeitmaschine kino wurde von drei figuren gebaut: vom spieler, vom flaneur und vom wartenden. dem spieler geht es um die spannung, der flaneur feiert den augenblick, den moment. er will die zeit dehnen. kein augenblick kann ihm lang genug sein. „wo gibt es in der welt augenblicke, wenn nicht im film? wenn in der welt alles außer der kinderzeit zu kurz gerät, so gibt das kino eine lange weile wieder, die den augenblick überhaupt erst herstellt.“ der dritten figur, dem wartenden gehe es aber nicht um diese gegenwärtigkeit, er wartet auf eine bessere welt, „auf etwas seitlich vom filmbild.“(5)
in dem film, in dem wir uns befinden, wird der flaneur am meisten zu seinem recht kommen, denn man befindet sich mittlerweile in einem anderen film. ja, man ist doch etwas von dem alltagsfilm runter und auf einen anderen film raufgekommen, hat es womöglich gar nicht so sehr gemerkt. aber schließlich lachen sie schon wieder. etwas kann ja komisch sein. das gibt es durchaus. aber etwas kann ganz und gar nicht komisch sein, und es wird trotzdem gelacht. auch das gibt es auf unserem alltagsfilm.
was es dort aber nicht gibt, ist unsere erwartung, die sich aus einer anderen wahrnehmungsstruktur ergibt. wir mögen vielleicht nicht einmal das, was man unter einer gut erzählten geschichte versteht, erwarten, oder narrative verdichtungen nach herkömmlichen strickmustern, aber wir sind als filmzuschauer per se in einer anderen zeitlichkeit verankert, bzw. auf eine andere zeitstruktur bezogen. dieser grundhaltung entkommen wir nicht, denn selbst, wenn etwas im film genauso lange dauern würde wie in unserer alltagserfahrung, dann erscheint es uns da doch als gedehnt oder eingefroren. film ist bewegte und verdichtete zeit. und wenn etwas auf der leinwand sich allzu sehr im alltagsrhythmus aufhält, seine zeitliche struktur zitiert wie z.b. es in den filmen von andy warhol geschieht, erhält diese alltagszeit ein rufzeichen, das heute schnell in manierismus ausarten kann. es geht also um übersetzungsverhältnisse.
das bloße eins-zu-eins-verhältnis existiert eben nicht. authentizität ist im film immer ein effekt, den man herstellen muß mit filmischen mitteln. doch wie erzeugt man nun dieses gefühl des präsens, des ständig sich entwickelnden, der offenheit von situationen? als grundbestandteil der cassaveteschen authentizitätsmaschine wären sicher der ständige perspektivenwechsel, die unaufgelöstheit der einzelnen szenen, bestimmte techniken des schauspiels wie der improvisation zu nennen.
was später beim dogma-film mehr wie ein stil wirkt, ein manierismus, die verwackelten handkameras, der schnelle, hektische schnitt, findet bei cassavetes entsprechung auf der ebene der narration. hier wird kein fest umrissener konfliktknoten präsentiert, es geht nicht um eine storyline. „I hate plot point! I don’t like focussing on plot because I don’t think, the audiences consist of only thirteen-year-old-kids. it’s offensive to me that you’d have to explain to an audience what is so apparent.”(6)
die beleidigung würde auch in zwei richtungen gehen, einerseits die des für dumm-haltens und andererseits die des für dumm-verkaufen-müssens. um klartext zu sprechen, wie es so schön heißt: wir gehen ja nicht einfach so ins kino, wir gehen mit unseren wünschen ins kino. und wir würden dort gerne etwas sehen, was möglicherweise mit alexander kluges figur des wartenden zusammenhängt. nur allzu schnell ins filmbild gezwungen sieht es schnell nach kitsch aus, bzw. verwandelt es sich in den betrug an unseren wünschen. in der üblichen plotstruktur steckt eben etwas von dieser sehnsucht nach befreiung, und zwar von jener spannung, die in dem konfliktraum liegt, den wir unser leben nennen. und mit einem etwas emphatischen authentizitätsanspruch könnte man nun beobachten, wie diese herkömmliche plotstruktur in einem ersten schritt aus dem konfliktknoten den einen konflikt herauslöst, z.b. den vater-sohn-konflikt, und in einem zweiten schritt in diesem eine stringente entwicklung herbeizwingt, die zum spannungsverlust führt, zur lösung. am ende ist man alles losgeworden, und am meisten sich selbst. aber das ist nicht schlimm, denn es verschafft uns ja zumindest eine kleine katharsis, und es ist uns ja auch bewußt, daß es auf einem anderen film abläuft, zumindest nicht einem, der wirklich mit uns was zu tun hat.
wenn man aber an den situationen des lebens interessiert ist, für die es keine schnelle lösungen gibt, also den meisten alltagssituationen, dort, wo sich auch die „furchtbare längen“ befinden, aber auch unterschiedliche geschwindigkeiten nebeneinander existieren, und unterschiedliche levels an präsenz - denn man kann ja nie ganz bei sich sein, sondern muß sich einer ständigen kontaktaufnahme stellen, sowohl zu sich selbst, als auch zu den anderen, und zu der situation, in der man sich befindet - dann wird man anderes sehen wollen. die thematisierung dieser momente ist dem kino als bewegter verdichteter zeitraum wesensverwandt, und den filmen von john cassavetes kann man nun wirklich nachsagen, daß sie zeit in ihrer materialität sichtbar machen, und zwar nicht die abstrakte zeit, sondern die affektgeladene, die des präsens.
eine prototypische situation, in der diese zeit am meisten spürbar wird und die man auch im alltagsfilm nur allzu oft wiederfindet, ist die peinliche situation, also eine situation, in der der riss zwischen individuellen und sozialem spürbar wird.
in der peinlichen situation wohnen auch unsere „furchtbaren längen“, denn aus ihr ist kein entkommen möglich - „aus diesem film kommst du nicht mehr raus!“ sagt einem dann das gefühl, während man sich anhört „what is it with you blondes! you have some swedish suicide impuls, hah?“ und man könnte im boden versinken, wenn man in diesem lokal sitzt und immer noch minnie moore heißt und diesem zelmo gegenübersitzt, der mit allzulauter stimme seine allzu privaten vermutungen durchs lokal posaunt. aber man wird eben weiter minnie moore heißen und nicht rauskommen aus diesem augenblick, wenn man nicht etwas unternimmt. denn aus einer peinlichen situation muß man sich befreien.
vielleicht glaubte cassavetes auch deswegen, daß durch sie am ehesten etwas über menschen zu erfahren ist, weil darin eben dieser sehr eigene rettungsversuch steckt - seine filme sind jedenfalls voll von kleinen unangemessenheiten, übertretungen, mißverständnissen, übersprungshandlungen.
und wieder wird gelacht. diesmal war man es aber selber. lachen kann unterbrechen, es kann aber eine kontinuität herstellen, denn wenn eine situation allzu peinlich ist, führt uns das lachen wieder in das gefühl zurück, sich in ihr aufhalten zu können. lachen kann aber auch kontaktvermeidend sein. wenn man beispielsweise dauernd lacht, wenn jemand mit einem reden will, der einem eine weile deswegen nicht böse sein wird. aber irgendwann wird das kippen, und man wird gesagt bekommen: „jeannie, could you do me a favor? just be yourself!“(7)
ja, wir sitzen in unserem alltagsfilm und könnten mabel longhetti oder seymour moskowitz heißen oder einfach jeannie. und unsere fähigkeit witze zu reißen, wird uns schon noch erhalten bleiben, sie wird uns noch manches mal retten oder auch nicht, nur jetzt im augenblick, wo man diese aufforderung erhält, taugt sie nichts. und das gilt es wohl auszuhalten.
aber immerhin bewegen wir uns hier nicht durch das picture, das ein bigger picture als referenten hat. kein ödipaler masterplan im hintergrund, auf den unsere geschichten reduziert werden könnten, hineinverkleinert. keine exterritoriale erzählordnung, die uns als beispiele einkassiert hat. cassavetes wollte an der eingangs erwähnten verschwörung nicht teilnehmen, er wollte nicht jene spannung, die einem den atem wegnimmt und einem einen fremden einsetzt, wie alexander kluge schreibt, sondern jene, die direkt aus dieser speziellen beziehung unserer wahrnehmungszeit zur filmischen erzählzeit entsteht.
und so muß er auch antipsychologisch verfahren, seine figuren haben keine geschichte, sie werden nicht erklärt, aber auch nicht beurteilt. es gibt in den szenen auch keine hierarchisierung in haupt- und nebendarsteller. und seien es auch star-schauspieler wie gena rowlands oder peter falk, sie werden in den szenen gleichberechtigt behandelt zu allen anderen, oftmals amateurschauspieler oder laien. was den verdacht aufkommen läßt, daß da produktionstechnisch auch einiges anders gelaufen sein muß, als man es von einem normalen produktionszusammenhang her zu kennen glaubt, aber man ist ja auch nicht einfach in einen normalen produktionszusammenhang hineingeraten, man ist längst in einer filmfamilie drin.
3. in filmfamilien
ja, es gibt nicht nur die fassbinder-filmfamilie und die godard-filmfamilie, es gibt auch die cassavetes-filmfamilie. wie kam sie zustande? cassavetes’ erster film, „shadows“ von 1959, ist aus einem workshop-programm entstanden, das er mit dem schauspieler burt lane 1956 gegründet hat als eine art gegenworkshop zur damals sehr populären strasberg school, die die entwicklung der figur, bzw. die versenkung des spiels in die figur ins zentrum stellte. cassavetes setzte dagegen auf interaktion, verstand agieren mehr als reagieren in einem sozialen feld. die situationen, nicht die figuren und deren geschichte treiben die filmische erzählung voran.
„bring realism back to acting“ war jedenfalls das hauptmotto, und man entdeckte unseren alltagsfilm. d.h. die inszenierungen, die ebene des inszenatorischen im alltag.(8) eben all diese kleinen alltagsinszenierungen, die wir vollziehen, die freilich im unterschied zur bühnen- und filminszenierung keiner übergeordneten regie gehorchen, sondern sich - man könnte das hier mit michel de certeaus unterscheidung von taktik und strategie vergleichen - aus der jeweilig gegebenen situation herausentwickeln. die schauspielerische antwort darauf war die improvisation.
denn nicht nur verwendete cassavetes tonbandaufnahmen und schrieb bei gesprächen in diesem alltagsfilm mit, um sie dann für sein filmscript zu verwenden, er ließ die kamera auch bei bloßen improvisationen laufen, und so fiel die zeitlichkeit der figurenentwicklung nicht selten mit dem drehprozeß, dem shooting zusammen. vieles entstand aus dem augenblick heraus, und man verzichtete auf das, was man als geplante gestaltung bezeichnen würde.
aber auch umgekehrt nahm er die konkrete produktionssituation in den film mit hinein - was auf dem set sozusagen privat geschah, fand eingang in die filmische erzählung oder fungierte als katalysator des spiels. sein motto diesbezüglich war: „use these off-camera realities to enrich your in-camera-performance.”(9)
cassavetes hätte auch mehr wie ein dokumentarfilmer funktioniert, schreibt ray carney in seiner monographie. zumindest beim dreh. er habe nicht erst auf die perfekte ausleuchtung gewartet, auf die technisch eingerichtete situation, sondern habe im grunde das schauspiel seiner figuren dokumentiert. cassavetes war überzeugt: „if you see something convincing, never mind how you see it. it’s what you see that counts. if it’s good then the scene is good, even if the shot is not.“(10) er habe nur versucht, die bewegung der szene vorauszuahnen und die schauspieler möglichst frei agieren zu lassen. „a movie was not about creating a pretty picture... beauty and perfection were the enemies.” aber ganz kann man ihm das auch nicht glauben, denn schließlich spricht die tatsache, daß cassavetes zwei jahre lang am schnitt gearbeitet hat, also der montage höchste bedeutung zukommen läßt, doch dagegen.
letztendlich entstand eine art alltagsfilm, dem aber eine narrative struktur zugrunde liegt, die nicht zu ende gedacht war während des drehs, sondern sich immer noch weiterentwickelt hat. nicht nur war den schauspielern oftmals nicht klar, welche szene am jeweiligen tag gedreht wurde, oder wie es weitergeht, cassavetes hat sein script auch während des drehs noch umgearbeitet, weitergeschrieben. und er hat der improvisation seiner schauspieler auch etwas nachgeholfen, um eine größere authentitzität des spiels zu erzeugen. so passierte es nicht selten, daß er ihnen verschiedene anweisungen gegeben hat, sodaß sie mit unterschiedlichen annahmen in eine szene gingen. oder ihnen zu unterschiedlichen zeitpunkten, also kurz vor dem dreh oder lange vor dem dreh, ihre texte gegeben, sodaß unterschiedliche levels an sicherheit entstanden sind, er hat profi-schauspielern mit amateuren kombiniert und deren jeweilige unsicherheiten ausgenützt.
das kennen wir doch auch: auch wir haben unterschiedliche voraussetzungen, wenn wir in eine situation geraten, auch wir stehen mit unterschiedlichen annahmen in einer konfliktsituation und befinden uns auf ganz unterschiedlichen levels der information, der souveränität und des interesses, wenn wir uns begegnen sollen. doch daß es den schauspielern genauso gehen soll, das ist einem neu. eigentlich ist es erstaunlich, daß sie ihn nicht gekillt haben. aber das ist eben wieder die filmfamilie, die so etwas ermöglicht.
wie kommt so eine filmfamilie zustande? man möchte doch in sie einreisen können, man möchte teil von so einem “kunst-und lebens”-zusammenhang sein, anteil haben an der party-stimmung, die 7 monate lang während des drehs von „faces“ geherrscht haben soll. man möchte auch zeiten erleben, in denen zwischen dreh und nichtdreh schwer zu unterscheiden ist und arbeit und privates in eins fällt, kurz: wenn es einfach spaß macht und die arbeitsteilung nicht jener starren hollywoodnummer folgt, sondern jeder einmal kameramann sein darf. andererseits aber möchte man nicht allzu sehr dabei sein, wenn wenn man einfach nur benutzt wird oder rausgeschmissen von heute auf morgen. denn eine richtung gibt es in so einer filmfamilie trotz all der party-stimmung: diesen verdammten film fertigzustellen. er ist das ziel, auf das man hinarbeitet, er legitimiert jede noch so krasse illoyalität. und in der cassavetes-filmfamilie war klar, das cassavetes der regisseur war. er konnte die leute also einfach rausschmeißen, wenn es ihm paßte. im namen des films konnte betrogen werden und gelogen, und nicht selten wurde das auch gleich zum sujet des films gemacht.
so ist der film, den wir heute sehen werden, „faces“, nicht nur ein film über die gehobene mittelklasse, „people that are made fun of!“ die, die angekommen sind, nicht nur in ihren business-prozessen, in den mittleren jahren, in ihren jahrelangen ehen, es ist auch ein film über die menschen, die ihn gemacht haben. „one day I woke up and realized that I am part of that society and almost everyone I know is.“(11)
4. faces
„cassavetes: why do marriages go sour?” lautete eine überschrift eines zeitungsartikels zu “faces” 1968. andere aus jener zeit hießen „john cassavetes talks it up for the star-system“, „cassavetes puts $1,5 million pricetag on ‘faces’-film“, „dead-on dialogue as their cash runs out” und „cassavetes tells fest directors usually enemies of actors, in cahoots with producer“.(12)
„faces“ war nicht nur ein filmischer, er war auch ein produktionstechnischer kraftakt, wie man sagen muß, denn schließlich war cassavetes nicht daran interessiert, mit seinen arbeiten in der kunstkunst-ecke zu landen. gegen die filmfamilie stand 1968 in amerika eben nur die hollywoodmaschinerie mit ihrem starsystem, dem studiosystem, all den büronummern und den produzenten mit ihrem produzentensystem. und mit allen hatte cassavetes seinen persönlichen kampf ausgetragen. „shadows“ und „faces“ ließ er zwar von freunden wie maurice mcendree und alan ruban produzieren, aber er hatte durchaus schon in den 50ern und frühen 60ern die hollywoodproduktionsmaschinerie mitgemacht und, wenn er diese auch als unproduktiv bezeichnet, so immerhin doch anekdoten produziert wie die, daß er angeblich stanley kramer, den produzenten von „a child is waiting“ nach einem screening geohrfeigt hatte - „so I gave him a good one“(13) - weil dieser ihm den film heimlich auf hollywoodmaß zusammenschneiden ließ. und er hat auch selbst immer wieder als schauspieler in hollywood-produktionen mitgespielt, um geld zu verdienen.
es war eine absolute home-production. gedreht wurde im haus von gena rowlands und john cassavetes und im haus der mutter von gena rowlands, die genauso wie katherine cassavetes oftmals in seinen filmen mitspielte. gedreht wurde mit zwei handkameras, zwei 16mm-eclairs. meist nachts. und sowohl die schauspieler als auch das komplette produktionsteam haben gratis gearbeitet. was in anbetracht der 3-jährigen produktionszeit von 1965 bis 1968 erstaunlich ist. sieben monate alleine dauerte der dreh, 115 h film wurde belichtet, was ein drehverhältnis von 50:1 ergibt. 129 minuten lang ist die endversion wie sie uns vorliegt, obwohl cassavetes eine ganze zeit lang daran dachte, einen 8 stunden film daraus zu machen.
das schwierigste war aber einen amerikanischen verleih für den film zu finden, sodaß er letztendlich entnervt nur 1,5 millionen für einen kompletten verleihdeal haben wollte. aber am ende sollte „faces“ der erste mainstream-independent-film werden, „das dolce vita of the commercial film“ sagt man zu richard frost in der eingangszene des films. ein europäischen erfolg, der sich erst mühsam in einen amerikanischen verwandeln ließ. es war der erste film, der über filmfestivals und kleine programmkinos ein mainstreamerfolg in amerika wurde. mit ihm beschreitet man nicht nur die crossroad des fiktiven und dokumentarischen, oder die des amateurhaften und professionellen, sondern auch die des hollywoodkinos und des autorenkinos, der filmfestivals und der großen verleihdeals, was cassavetes wiederum im film thematisiert: „what will you sell us today“ werden die produzenten in jener eingangsszene im screening-room gefragt. „money“, ist die antwort. und wenn es in der ersten halben stunde des films eigentlich dauernd ums geld und um ökonomien geht, dann ist es doch ein wunder, daß seine figuren nicht aufgeben.
das sei es, was diese letztendlich auch ausmachte, sagt cassavetes: „whatever happens, happens. and when it happens, they love or get angry, but they don’t - they don’t give in. they don’t give in! and that’s what makes them likeable. they get it, and they grit it and go on.“(14) das könnte man auch auf ihn beziehen.
selbstmitleid ist die einzige menschliche schwäche, die ihn nicht interessierte. das ist nicht drin in seinen filmen. da kann es einem eher passieren, daß man eine anekdote erzählt über den eigenen vater, und man sich anhören darf, wie unangemessen das ist: „I don’t give a damn about your father.“ - „that’s right.“ wird man dann sagen und noch einmal hören: „I don’t care.“ und wenn man dann ausbricht: „but I care!!“ wird man mit sicherheit ein: „but I don’t!!“(15) einkassieren. denn es ist niemals alles gesagt, es geht immer weiter, das letzte wort wird hier niemandem überlassen, das letzte wort ist fiktion. und so soll es auch bleiben.
und so schließe ich heute ganz fiktiv mit einem zitat von john cassavetes: „this picture, this picture - I don’t give a fuck what anybody says. if you don’t have time to see it, don’t. if you don’t like it, don’t. if it doesn’t give you any answer, fuck you. I didn’t make it for you anyway.”(16)
verwendete literatur:
carney, ray. cassavetes on cassavetes. london: faber and faber, 2001.
streiter, anja. das unmögliche leben. filme von john cassavetes. berlin: vorwerk 8, 1995.
rassos, effie. performing the everday: time and affect in john cassavetes faces. in: www.sensesofcinema.com/contents/ 01/16/cassavetes_faces.html
alexander kluge. utopie film (1983). in: in gefahr und größter not bringt der mittelweg den tod. hg. von christian schulte. berlin: vorwerk 8, 1999.
vortrag gehalten im april 2003 im frankfurter moussonturm und publiziert in bellatriste 7, herbst 2003 (www.BELLAtriste.de)