das letzte hemd
meine damen und herren,
es ist mir eine große ehre, sie hier begrüßen zu dürfen! ich werde jetzt etwas sehr untypisches für mich machen: ich werde über gefühle reden und zwar über große gefühle. natürlich, oder sind wir etwa nicht in der oper? und zwar werde ich über gier, phlegma und wut sprechen.
wir alle kennen sie, die kinogier, warum sonst sind wir hier? weil wir verrückt danach sind, etwas zu erfahren, und zwar nicht irgendetwas, wir wollen wissen, was los ist, und das ist gar nicht so einfach. denn wir leben in einer zeit, die bestimmt ist von dem gefühl eines gewaltigen realitätsverlustes und dem daraus resultierenden hunger nach dem „wirklichen leben“. ein irrsinnshunger muß das sein, blickt man auf all die echtzeit-reportagen, life-berichterstattungen und doku-soaps in unserer fernsehlandschaft. doch wer läßt sich schon abspeisen mit geschichten von menschen, die sich selber spielen nach einem plot, der sie in starre handlungsschemata und kommerzielle fernsehformate festschreibt, sie so ihrer authentizität enteignet, dem letzten, was sie noch zu besitzen scheinen, man könnte auch sagen: dem letzten hemd.
nein, wir sind begierig zu erfahren, was los ist und verstehen, daß dieses wissen nur mittels bestimmter ästhetischer erfahrung sich uns erschließt, daß die bilder und geschichten der wirklichkeit ihren eigenen rhythmus, ihren eigenen zusammenhang und ihre eigene dauer haben. dazu haben wir ja nicht nur unsere augen, wir haben auch unsere kinoaugen und die wollen was sehen. es sind empfindliche organe, hoch aufgeladen mit phantasie, und auch mit jener gier nach bildern ausgestattet. es sind augen, die sehen nach innen und nach außen. das machen sie im rhythmus einer 48tel sekunde dank der filmischen apparatur, an die sie angeschlossen sind. erst durch die mitarbeit unserer kinoaugen, durch deren phantasietätigkeit und imaginationskraft wird der film zu ende produziert. er vervollständigt sich, wollte ich sagen, doch muß ich mich hier korrigieren: filme sind niemals vollständig, man hat sie ja auch niemals fertig gesehen, sondern sie entstehen immer neu.
daß wir an den bildern, die wir uns von der welt machen, mitarbeiten, dieses bewußtsein scheint heute jedenfalls ziemlich gering vorhanden zu sein. das fällt mir immer auf, sehe ich filme aus den frühen siebzigern, filme von godard, cassavetes, fassbinder und kluge, die nicht nur in ihren rhetoriken, sondern auch in ihren strukturen von einem aufbruch erzählen, öffnungen besitzen und ausblicke versprechen nach seiten hin, die längst noch nicht zu ende entwickelt sind. es ist dieser musilschen möglichkeitssinn, der ihnen innewohnt, ohne daß sie den wirklichkeitssinn dabei nur eine sekunde vernachlässigten. diese dialektik steckt in den bildern von autobahnen, bürogängen, parkhäusern, redaktionen, sendeanlagen, bars, die ich mit den filmen dieser zeit assoziiere. öffentliche und halböffentliche räume, die heute irgendwie aus unserem blickfeld zu gleiten scheinen, die abtauchen, verschwinden, wie vieles andere, an dem man früher noch etwas gesellschaftliches festmachen konnte, etwas, das einen betreffen könnte. einzig das auto scheint übriggeblieben, zwar kein godard-auto mehr, aber immerhin können wir in ihm sitzen und markenweisheiten von uns geben oder uns auch die namen von supermarktketten aufzählen lassen. und wenn wenn wir glück haben und dies auf eine bestimmte, notorische weise geschieht, wird möglicherweise der blick frei für die lage, in der wir keinen meter mehr haben, aber doch vorankommen müssen: unsere gegenwärtige situation.
die sichtbarkeiten und unsichtbarkeiten scheinen sich jedenfalls neu zu verteilen, und nicht nur das, den heutigen bildern, die wir von unserer welt machen, ist der permanent rutschende, abgelenkte blick schon eingeschrieben, der eine orientierung erschwert.
wer ratlos ist, sucht nach zusammenhängen. und zusammenhänge herzustellen und ein unterscheidungsvermögen zu entwickeln, das hat alexander kluge als aufgaben des filmemachens bzw. bestandteile der realistischen methode formuliert, kurz nachdem er, „in gefahr und größter not bringt der mittelweg den tod“, gedreht hatte. es ist ein film, der uns ein bild der antagonistischen wirklichkeit im jahr 1974 erstellt. ein film über eine ungleichzeitigkeit in frankfurt, die des häuserkampfes, des karnevals, des treibens von ddr-spionen, die „marx im original“ lesen und dem einer beischlafdiebin, die sagen darf: „ich heiße inge maier. ich bin beischlafdiebin. aus meiner langjährigen erfahrung weiß ich: was die männer versprechen erweist sich nachträglich immer als zu wenig. für dieses defizit nehme ich ihre brieftasche an mich. das macht mich nicht glücklich, aber ich komme auf meine kosten.“ es sind solche sätze, trocken gesprochen, die mich 1991, als ich den film sah, fasziniert haben. da saß ich in salzburg und habe natürlich zunächst gesagt „diese deutschen“ und habe dann gelacht, wie man sich eben speziell in salzburg über „diese deutschen“ zu lachen angewöhnt hat aus dieser mischung aus einer abwehrgeste gegenüber den „großkotzerten“ und gleichzeitigem standesdünkel, als auch einer abwehrgeste gegenüber dem vereinnahmenden großen bruder, der alles besser weiß und besser kann, und einer geschichtsabschieberei, wie sie noch bis in die 80er-jahre im öffentlichen diskurs möglich war. kurz danach würde ich selber mitten in dieses lachen reingehen, weil ich darin orte vermutete, die mich neugierig machten.
aber noch saß ich in salzburg und wunderte mich weiter über das graben und graben der geschichtslehrerin gabi teichert in kluges „patriotin“ von 1979. eine seltsame systematik lag für mich in deren eigensinn, die mich faszinierte, die sie aus der fiktion zum realen spd-parteitag gehen läßt, um eine bessere geschichte von den abgeordneten zu fordern, weil die ja dort gemacht werde: „weil hier eine quelle ist.“ gabi teichert wollte etwas wissen und dieser wunsch kann sich von der kinoleinwand auf das publikum übertragen, schneller, als einem oft lieb ist.
„das motiv für realismus ist nie bestätigung der wirklichkeit, sondern protest.“ schreibt kluge weiter in jenem text zur realistischen methode, eine abwehr, ob freiwillig oder unfreiwillig, es ist eine entgegnung, weil filme übersetzungen sein müssen. und, so kann man hinzufügen, sie sind eine vielzahl von sprachen, die nebeneinanderherlaufen, die miteinander funktionieren als zusammenhang, der nicht feststeht, sondern sich immer neu herstellt. teil einer emanzipatorischen praxis in einer zeit, die von ratlosigkeit beherrscht wird und in einem land, das medial in einer äußerst schwierigen situation ist, also film als gegenöffentlichkeit.
ist man ratlos und weiß nicht, wo man steht, empfiehlt es sich entfernungen zu messen, um eine orientierung zu erlangen. die entfernung zu den filmen von kluge und fassbinder zu messen, heißt aber auch die entfernung messen zu einer zeit, in der ich zwar aufgewachsen bin, deren analytisches begriffsinventar jedoch an mir vorübergegangen ist, was auch an salzburg liegen mag, wo das weghören diesbezüglich leichter fällt als anderswo. „antagonistische wirklichkeit“, „gesellschaftliche widersprüche“ sind jedenfalls vokabeln, die ich erst mit 19 gehört habe, erst die filme haben mich damit konfrontiert. filme über ungleichzeitigkeiten, über mißlingende tauschverhältnisse, ob es um arbeits-, liebesgeschichten geht oder auch nur um interviews, die schief gehen. angelegenheiten, wie wir sie in unserem heutigen alltag immer wieder antreffen. es ist ja ein wunder, daß wir noch miteinander kommunizieren können, es müßte ein stottern durch alle kanäle gehen angesichts dessen, was am realfilm so passiert, doch im fernsehen sind nur menschen zu sehen, die vor laufender kamera so miteinander reden, als würden sie das können, als gäbe es so etwas von vorneherein: eine gemeinsame basis.
weiß man nicht, wo man steht, empfiehlt es sich entfernungen zu messen, auch wenn es unfaire messungen sind wie die vom siebziger-jahre-autorenfilm zum heutigen realfilm. aber manchmal sind unfaire messungen notwendig, wenn die verhältnismäßigkeiten nicht mehr stimmen und man selbst dauernd in ein maß genommen wird, das weitaus zu groß für einen ist.
was man jetzt immer häufiger zu sehen bekommt, ist das letzte hemd. überall wird es ausgehängt, nur seltsamerweise fällt es nicht wirklich auf. von allen seiten hört man die klage, wie sich die kassen lehren, wie dieses und jenes nicht mehr finanzierbar wäre wie gesundheitssystem, ausbildung oder kunst. mitten im gesellschaftlichen reichtum hocken nur noch pleitegeier da und schieben sich schulden zu. das letzte hemd sei übersichtlich, heißt es, doch wie es sich zeigt, ist das gegenteil der fall: das letzte hemd ist unübersichtlich. es breitet sich aus, wird immer größer, verwinkelter und zugleich brüchiger. es löst diskontinuitäten in der wahrnehmung aus, sodaß die notwendige frage, ob wir noch all unsere sinne beisammen haben, vermessen erscheint.
„ist es nicht so“, sagte eine freundin kürzlich zu mir, „daß alle gesellschaftlichen gewinne privatisiert werden und alle verluste vergesellschaftet?“ plötzlich hat sie mit einem satz auf den punkt gebracht, was mir die ganze zeit durch den kopf gegangen und nicht stillzustellen war: da findet eine neuorganisation der zusammenhänge statt, eine gewaltige umverteilung, und man ahnt: all diese veränderungen geschehen nicht von alleine, dennoch ist es ein gefühl der ohnmächtigkeit, welches sich ausbreitet. nicht viele von uns meinen, beteiligt zu sein an diesem vorgang - sicher, das war möglicherweise schon immer so, aber daß dieses gefühl so diskursbestimmend ist neben all den hybriden machbarkeitsphantasien, ist doch eher resultat der entwicklung der letzten jahre.
und schon sind wir mitten im phlegma angelangt, kein eigentlich großes gefühl, eher ein zustand der ständigen entfärbung, der „permanent vacation“, und so möchte ich diesen auch gleich wieder verlassen, um zu der viel wichtigeren frage zu gelangen: welche wut steht uns noch zur verfügung? man müßte ja permanent auf die straße gehen, höre ich immer wieder, eigentlich, bei dem, was passiert. doch wer kann schon permanent auf die straße gehen, besonders wenn sie sich permanent entfärbt. ein vorgang, der allerdings begleitet wird von einer deftigen neukolorierung anderer zonen unseres alltäglichen lebens. denn wir befinden uns in einer zeit der wiedereinschreibung in traditionelle geschlechterrollen, der wiederaufnahme von mustern und riten, die man aus zeiten einer repressiven alltagskultur kennt, und es wird von werten gesprochen, als ob diese unseren bedürfnissen, ja, unseren möglichkeiten entsprächen. zudem läuft man immer mehr gefahr zu verschwinden, wenn man in diesen farbrahmen nicht paßt.
„sie müßte mit 10 mündern gleichzeitig reden, um genug anschauungsmasse zusammenzuhäufen, wenn sie nur einen satz zu ende bringen will.“ diese bemerkung aus kluges buch zur „realistischen methode“, das gefühl, alles gleichzeitig und zehn mal sagen zu müssen, um überhaupt gehört zu werden, eine sichtbarkeit inmitten lauter anderer sichtbarkeiten rauszuschaufeln, scheint mir ein grundbestandteil der situation zu sein, der sich jeder filmschaffende, sowie jeder angehörige der medialen wirklichkeitsproduktion gegenübersieht: alles ist zu sehen, alles ist dreimal zu sehen und wird doch nicht wahrgenommen.
denn es sind ja auch nicht nur die verhältnisse, die nicht mehr zu stimmen scheinen, sondern auch die verhältnismäßigkeiten, und zwar die in der öffentlichkeit. einer öffentlichkeit, die heute auch nach anderen maßstäben funktioniert. nicht nur scheint symbolische politik die reale immer mehr abzulösen oder mit dieser nichts mehr zu tun zu haben, auch herrscht verwirrung über die bedeutung der symbolischen gesten, die gesetzt werden. und das ist ja leider auch das, was man seit einigen jahren von österreich mitbekommt: eigentlich nur noch fatale gesten, über die man sich zurecht erregt, eine erregung, die aber niemals konsequenzen nach sich zu ziehen scheint, als wäre sie immer schon von vorneherein machtlos.
auch eine filmische szene: die wut, die einer eben noch hinreichend hatte, geht zu ende. der letzte rest sickert nach innen. das ist harte arbeit: zusehen wie diese wut versickert, wie sie in einen menschen reinsickert und drinnenbleibt, ihre zerstörungsarbeit dort weiterführt oder andere ausgänge sucht, ausgänge, die einem angeboten werden: „warum läuft herr r. amok?“ doch diese frage stellt sich nicht mehr, heute ist der amoklauf im system integriert. man hat ja adressen für seine wut, auch wenn es die falschen sind, so funktionieren sie doch. zurück bleibt in jedem fall: das ausgebremste gesicht. es bleibt zurück: unsere ängstlichkeit und hilflosigkeit einer situation gegenüber, die im krassen gegensatz zu dem rauhen betriebston steht, mit der wir ihr begegnen, zurück bleibt jene alte argumentation mit einer realität, als wäre sie nicht auch verständigungssache, sondern naturhafter zustand, eben der altbekannte reaktionäre pauschaleinspruch gegen jede soziale phantasie. und zurück bleibt auch jener begriff von normalität, den wir mit sicherheitswahn und wachsender ungleichheit bezahlen. das sind unsere letzten hemden.
aber es gibt ja immer noch andere, z.b. hemden, wie sie in fassbinder-filmen auftauchen, quasi mitten ins 70er-jahre-phlegma hinein, das es ja auch gab, vor fensterfronten, hinter denen man die stadt erahnen kann, eine müde skyline, die münchen sein könnte oder aber eine andere beliebige stadt. da kann man männern zusehen, die sich unmotiviert in büroräumen oder privaträumen, die wie büroräume aussehen, ihre jacketts ausziehen, sie auf stühle werfen oder andere möbelstücke, und in ihren hemden dastehen, als wären es nicht letzte hemden, sondern horizonte, zu denen man aufbrechen könnte. diese geste des ausziehens hat nicht nur eine erotik, eine, die sich in die situation hineinbegibt, sie hat auch etwas von einer verzweifelter souveränität, von der geste: das bin ich, nichts weiter, aber das bin ich trotzdem.
„welt am draht“, fassbinders film von 1974, ist so ein film, in dem sich der held fred stiller am ende unvermittelt seines jacketts entledigt, während er den satz sagt: „deswegen kann ich mich jetzt auch nur wehren mit allen mitteln, weil mir niemand glaubt.“ er weiß zu diesem zeitpunkt, daß er nichts als eine identitätseinheit ist, künstlich geschaffen vermittels elektronischer schaltkreise, lebend in einer welt, die selbst nur eine simulation ist. auch bei uns ist ähnliches zu ahnen. und wenn der philosoph slavoj zizek schreibt, daß jetzt, wo in der spätkapitalistischen konsumgesellschaft das „reale soziale leben“ selbst züge eines inszenierten schwindels annehme, indem sich unsere realen nachbarn wie schauspieler und statisten verhalten, es umso mehr darum gehen müsse die ideologischen und fantasmatischen koordinaten zu bestimmen, in denen unserer amokläufe stattfinden, die allerdings äußerst reale effekte sind, dann kann man ihm nur recht geben.
denn es sind noch immer wir, die wir unsere realität herstellen, das machen wir nicht willkürlich, sondern in den rahmenbedingungen einer geschichtlichen situation, die wir ständig produzieren und reproduzieren. es ist kein film, der irgendwo abläuft. wir machen diesen film, während wir miteinander sprechen, reden, anträge einreichen, uns organisieren oder nicht organisieren, auf die straße gehen oder nicht.
film ist permanent auf der straße, und er ist es auch, wenn es diese nicht mehr gibt. er zeigt den öffentlichen raum, wo er verschwunden ist. kinoraum und stadtraum mögen heute in unserer scheinbar ortlosen zeit wie anachronistische räume wirken, aber dann ist es ein anachronismus, dessen wir bedürfen, wenn alle augenblicke das 21. jahrhundert neu ausgerufen wird und wir es nicht finden. man hat ja heute eher das gefühl, nicht einmal im letzten jahrhundert verblieben zu sein, sondern im falschen - ja, im ganz falschen jahrhundert sind wir gelandet mit unserer sehnsucht nach bildern, die uns von der gegenwart erzählen, mögen sie auch aus der vergangenheit kommen.
meine damen und herren, und schon sind wir wieder bei der gier, jener neugier angekommen , von der wir uns mitten in diesen abend führen lassen und weiter in die tage der diagonale. ich wünsche ihnen gutes gelingen dabei!
diese rede wurde anläßlich der eröffnung des österreichischen filmfestivals „diagonale“ in graz 2002 gehalten. (www.diagonale.at)