Zürich 2016 (1)
Zukunft als literarische Ressource
Dass er einen Anfang machen könne, zeichne den Menschen aus, schrieb Hannah Arendt. Plausibel. Wir hier im Saal wissen allerdings, dass Anfänge rhetorische Operationen sind. Sie sind Setzungen auf einem schon bereiteten Spielfeld. Schriftsteller müssen also stets mit einem Widerspruch umgehen, wenn sie beginnen, und so gibt es nicht selten ambivalente Gesten: den Auftakt, die Reminiszenz, das Anfangszitat, den Rückblick. Rolf Dieter Brinkmann schien sich für die Negation des Anfangs entschieden zu haben, als er sein Westwärts 1&2 begann: „Die Geschichtenerzähler machen weiter, die Autoindustrie macht weiter, die Arbeiter machen weiter, die Regierungen machen weiter, die Rock’n’Roll-Sänger machen weiter, die Preise machen weiter, das Papier macht weiter, die Tiere und Bäume machen weiter, Tag und Nacht macht weiter…“
Zur Anfangsmotivik gehört auch die Tür, man steht vor dem Gesetz, das Kafkas Türhüter so gut bewacht hat, eine Tür, die natürlich zwei Seiten haben muss. Es könnte sein, dass heute bei mir auf der einen Seite „Realismus“, und auf der anderen „Schuld“ steht, so genau weiß ich das noch nicht, es ist in jedem Fall eine Drehtür, durch die ich durchmuss, will ich der Frage nach dem Verhältnis der Literatur zum Zukünftigen nachgehen, und ich muss höllisch aufpassen, dass ich nicht gleich wieder draußen lande oder wie in „Play Time“ von Jacques Tati, jener berühmt gewordenen Szene, im Schwung der Drehtür feststecke und ewig rotieren muss.
Das erste, was ich jedenfalls sehen werde, wenn ich durch die Tür gegangen sein werde, ist ein schwarzer Bühnenraum. In ihm steht ein Podest, mit Glühbirnenlämpchenketten umkränzt, und wie immer Theaterlicht. Leicht bläulich, dem ganzen Setting eine räumliche Tiefe verpassend, die irgendwie fiktiv wirkt. Für einen Moment ist es still. Dann tauchen ein Mann und eine Frau aus dem Hintergrundschwarz auf, quasi aus dem Nichts, stellen sich einfach nebeneinander hin und beginnen zu sprechen, als könnte man das: „In the future there won’t really be countries like they are now. There won’t be nation states, there’ll just be one big world government body” sagt der Mann, bis er von der Frau unterbrochen wird: „Or in the future there will be a more sort of feudal system…”, dass es nur Kleinstaaten gebe und nur wenige Menschen überlebten, die aber 200-300 Jahre alt würden, versucht sie auszuführen, als sie von ihrem Bühnenpartner auch schon wieder unterbrochen wird, der ihr widerspricht: Es werde da viele Menschen geben – Und so geht das immer hin und her, sie geben im Gestus von zwei Politikern in Richtung Publikum konkurrierende Zukunftsentwürfe von sich. Diese perspektivische Umkehrung erinnert an einen Trick der politischen Rede: Indem man sagt, wie die Welt einmal aussehen werde, sagt man auch, was man heute tun müsse. Es wirkt hier zunächst wie ein spielerischer Wettstreit, der allerdings niemals in der Gegenwart ankommen darf, aber gerade deswegen, so der Konsequenz beraubt, wird in diesem starr gerichteten Blick auf die Zukunft umso mehr das Gegenwartsbild sichtbar. Die beiden Protagonisten verliefen sich in der Folge in ihren Szenarien in immer bizarreren Wendungen, ihre meist technische Innovationsphantasien im Stile eines etwas luftigeren Ray Kurzweils (falls das überhaupt noch möglich ist), verhakten sich in einer traurigen wie komischen Konkurrenz, weil man in so einer Situation nicht anders kann als doch irgendwie zu kommunizieren. Es entstanden poetische Bilder einer eigentlichen Zukunftslosigkeit.
Als ich die Inszenierung „Tomorrows Parties“ der britischen Performancegruppe „Forced Entertainment“ 2011 sah, wurde mir klar, wie vertrackt unser Verhältnis zum Zukünftigen heute ist. Wir stecken in einer noch näher zu beschreibenden Umklammerung von Zukunftsbeherrschung und Gegenwartsbehauptung fest. Die vertrackte Umklammerung der Zeiten ist allerdings nichts Neues.
„Die Jugend von heute Gespenster/Der Toten des Krieges der morgen stattfinden wird/WAS BLEIBT ABER STIFTEN DIE BOMBEN“, schrieb vor rund 30 Jahren Heiner Müller in „Verkommenes Ufer. Medeamaterial. Landschaft mit Argonauten.“
Er spielte immer wieder mit der zeitlichen Verkehrung, sein Blick nach vorne ist einer, der sich notorisch zurückwenden muss. „im rostigen Harnisch läuft die ZUKUNFT mit“ (S.99) Es ist eine polemische Verkehrung, die in einem marxistischen Theorierahmen natürlich anders, provokanter ausfiel als in einer Situation der möglichen Auflösung des historischen Gefüges durch seine Auslagerung in Maschinen. Interessierte sich Müller für die Zukunft, dann ging es erstmal in die Vergangenheit, um ihre (vielleicht verlorene) Zukünftigkeit zu erspüren. Bei Heiner Müller allerdings drehte sich letztendlich alles um eine Schuld, die man sich in der Vergangenheit aufgeladen hat, im Nationalsozialismus, im Sowjet-Kommunismus und nicht mehr los wird. Heute richtet sich der Blick mehr und mehr auf eine Schuld an der Zukunft aus. „Wir verwetten das Leben unserer Kinder und Kindeskinder.“, sind sich Politiker aller Couleurs einig, „wir überblicken gar nicht mehr die Folgen unseres Handelns“, fügen Sozialpsychologen und Klimawandelexperten hinzu. Wir schulden unserer Zukunft bereits so viel, dass wir es nicht mehr abstottern können, in ökonomischen Worten ausgedrückt. Die Blickrichtung dreht sich wahrlich um. War die Literatur des 20. Jahrhunderts stets eine, die zurückgeblickt hat, blickt die des 21.Jahrhunderts gleich ihrer Gesellschaft immer mehr in zahlreichen Szenarien angstvoll nach vorne.
Wir wissen ja auch, dass unsere Zukunft längst beinahe restlos (und dieses beinahe ist nicht unwichtig) hineingesaugt worden ist in die Gegenwart durch zahlreiche Kalkulationen, Futures und Derrivate, durch das von Rechenmaschinen immer schon Ausgemachte. Nur mit Geld darf gewettet werden in dem großen Gesellschaftsspiel. Strukturell sitzen wir also quasi stets im dritten Jahrtausend, das aber eigentlich längst abgeschafft ist, beschlossene Sache. Ein paradoxer Zustand.
Was bleibt einer Literatur übrig, die mit so einer Ausgangslage konfrontiert ist, welche Dramaturgie erstellen, welchen Rahmen kann sie noch setzen, welche Widerstandskräfte gegen den eben festgestellten Stillstand mobilisieren? Ist es der Rahmen des steten Futur 2, welches nicht nur Harald Welzer zum Stiftungstitel gemacht hat, sondern immer noch eine grammatische Zeitform ist? Eine grammatische und eine gedankliche Struktur, die literarisch stets mit dem Genre beantwortet wurde: Dystopie oder Science Fiction, für die das Futur 2 den geeigneten Rahmen darstellt, Ausgangslage und Problematik gleichermaßen, welche von einem Helden in ein Futur 1 wieder hineinzuschießen ist, mit Handfeuerwaffen und ohne. Futur 2 ist in diesem Sinn der abgeschlossene Zukunftshorizont einer allzu oft konventionellen Erzählung. Warum muss sie nur so konventionell sein, habe ich mich gefragt – brauchen wir diese holzschnittartigen Kennzeichnungen des Genres so sehr, weil wir erschrecken würden? Erschrecken wie bei der Lektüre von Cormac Mc Carthys „The Road“? Ein sich bewegendes Futur 2 wäre ja auch ausgeschlossen, es bedeutet außerdem stets, dass irgendeine auktoriale Position eingenommen werden muss, es konstruiert ja auch einen Metablick. „Etwas wird gewesen sein“ impliziert, dass es von der imaginär angenommenen Position des Sprechenden, jenseits der Zeitachsen, betrachtbar ist. Diese sozusagen erhöhte Sitzposition geht nicht selten einen Pakt mit der dazugehörigen Form des Erzählens ein, man weiß eigentlich immer schon, was kommt, und die paranoische Motivlage der dystopischen Literatur tut das ihrige dazu. Kein Wunder, dass man sich vom Genre abwenden möchte, wenn man eben nicht gerade „The Road“ von Mc Carthy von 2006 liest.
Demnach wird einen auf der Suche nach der Zukunft weniger der paradigmatische Projektionsraum eines Romans wie „The Circle“ beschäftigen, jener 2013 erschienen Big Data Dystopie von Dave Eggers, sondern mehr die delirante „Broken World“ von Tim Etchells, Mitbegründer der Performancegruppe „Forced Entertainment“ und insofern mitverantwortlich für „Tomorrows parties“. Der 2008 erschienene Roman bringt ein grundsätzlich modernes Motiv in Verbindung mit dem Zukünftigen, das vielleicht unserem Verhältnis zu ihm in eine tanzende Bewegung bringen könnte: Das Spiel.
Man könnte jetzt sagen, ausgerechnet das Spiel, wo es doch gerade noch um Bomben und Schuld, um Klimawandel und Finanzkrise ging, es erscheint nun doch zu fröhlich, zu kinderleicht, angesichts dieser krisengebeutelten Zukunft, die uns in den Klauen hält. Aber Sie als Literaturwissenschaftler wissen freilich zumindest seit Schiller um den Ernst des Spiels. Nur, wie sieht es mit seinem Realismus aus? Und: Welche Form der Zeitlichkeit behauptet das Spiel. Kann hier Gadamers zeitliche Kennzeichnung des Schillerschen Spielbegriff als „Hin und Her in der Zeit“ uns etwa weiterhelfen?
Tim Etchells Roman „Broken World“ – der Titel spielt schon auf jenes Computerspiel an, das vermeintlich auch sein Gegenstand ist – wird einem erst einmal als eine Wiederbegegnung erscheinen. Eine Wiederbegegnung mit dem Netz, den Onlinecommunities, dem digitalen Kosmos, wie man eben einer Situation wiederbegegnen kann, die einem zur zweiten Natur geworden ist und die man doch noch nicht so ganz verstanden hat. Hier steht insofern weniger die eine Spielregel im Zentrum wie noch in der eingangs erwähnten Performance „Tomorrows Parties“, als vielmehr die Fiktion eines ganzen Spiels, für das die Erzählerfigur, männlich weiß und jung, einen Onlinehilfspfad, genannt „Walkthru“ schreibt. Aber gleichzeitig erscheint der Roman als Überlebensübung für eben jenen jungen Mann, dem man die Bezeichnung white trash nicht zumuten möchte, ein Heldenepos durch Parallelwelten, eine komische Irrfahrt durch den Kosmos der Hilfspfade und den dazugehörigen Online-Communities. Die beinahe scheiternde Liebesbeziehung zwischen ihm und seiner Freundin Tory wird ständig durchkreuzt von dem roten Faden des Buches, jenes handelsübliche Fantasyabenteuer mit Monstern, Zombies, Zauberern und feindlichen Heeren, den Levels und Raumwechseln von der dritten bis zur 42. Stadt, für die eine Orientierungshilfe ein irrwitziges Unterfangen darzustellen scheint. Während der Erzähler sich in seinen Imperativen und Ratschlägen verirrt, gespickt mit Kommentaren und Analogien aus seiner eigenen Lebenswirklichkeit, bestehend aus einer prekären WG mit Freundin und Mitbewohner, der nicht minder prekären Arbeit als Pizzaschnellbäcker und dem unliebsamen Familienanhang in der Vorstadt, droht seine reale Welt auseinanderzubrechen. Gleichzeitig scheint er diese durch die Verfertigung des Walkthrus aufrechtzuerhalten, das Computerspiel erhält eine konstitutive Kraft.
Als von Menschen programmiertes Spiel muss es sich ja um ein prinzipiell überschaubares Universum handeln, und doch wirken die Möglichkeiten des Spiels unglaublich weit gesteckt, der Verlauf komplex und undurchschaubar. Sicher ist so ein Computer-Adventure-Spiel prinzipiell darauf angelegt, nicht zur Gänze durchgespielt werden zu können, sondern immer nur partiell, es ist ja niemals wirklich fertig, aber die Fiktionalisierung des Spiels durch den Hilfspfad macht aus ihm eine undurchdringliche Größe. Es entsteht der Eindruck einer schicksalshaften, überbordenden, beinahe mit religiösen Dimensionen versehenen Entität weit über die Grenzen jeglicher Programmierbarkeit. Und mehr noch: Der Hilfspfad beschreibt eine sich ständig verschiebende Zukunft, eine flexible: „Wenn Du auf dieses Level kommst oder in jenen Raum, dann verhalte dich so oder so, damit dieses oder jenes passieren kann.“ Ihm wohnt etwas stets Vorläufiges inne, der Pfad betont den Aktualisierungsgrad der Gegenwart, was einerseits durch die Simulation von Flüchtigkeit durch typische Tippfehler und Abkürzungen, durch den Stil einer erzählerischen Mission, stets aktuell dranzubleiben, und von der anderen Seite mit dem Gebot, nicht zu spoilern, also nicht vorzugreifen, noch unterstrichen wird. Man steckt sozusagen in einer zweiten Gegenwart des Spielverlaufes fest.
Das Lesevergnügen ergibt sich aus dem Kontrast zwischen der stetig extremer werdenden fiktiven Auffächerung des Spiels und der eher sich verödenden, verkleinernden und immer gleichzeitig konfliktreicher werdenden Welt des Erzählers. Dazu kommen auch unterschiedliche Adressierungen: Nicht nur die Helden des Spiels, die realen Freunde, auch die Gamer-Community wird angesprochen. Online und offline sind hier wie sonst auch nicht voneinander zu trennen. Und so ist die Broken World auch nicht die perfekte Spieloberfläche, sie ist fehlerhaft, irrational, undurchdringlich, keine einfache Angelegenheit, das Spiel wird durch seine ständige Onlinediskussion geöffnet, es kann kommunikativ nicht als abgeschlossene Einheit existieren. Gerüchte der Community durchweben es und definieren es im Verlauf neu. Dabei handelt es sich um drei Kommunikationsräume, die sich ineinander verfransen, bis etwas für Romane sehr Seltenes passiert: Die Leserschaft wird fiktionalisiert und aktiviert, es ist auch ein Roman über Leser. Das Internet wird zur Bühne, es theatralisiert sich. Wenn es am Anfang heißt, „Broken World“ sei eine Welt für sich, so wird das in seiner ganzen Struktur ständig durchkreuzt. Es kann niemals eine „Welt für sich“ sein, es ist längst eine Welt für viele, geöffnet.
Folgerichtig erscheint, dass hier kein spezifisches Verhältnis zu einer Zukunft hergestellt wird, sondern vielmehr die Konkurrenz der unterschiedlichen Zukünfte sichtbar wird, z.B. der des Walkthroughs und der des Realpfads. Sie werden vernetzt und als voneinander abhängig gekennzeichnet.
Prinzipiell ist klar, dass die Spielregel stets auf das Kommende verweist, sie ist protensiv. Ein vielleicht auf den ersten Blick abseitig wirkendes Parallelbeispiel dazu wäre Agota Kristofs „Großes Heft“ von 1986, jener Roman über die beiden Zwillingsbrüder, die im Krieg von ihrer Mutter bei der harten Großmutter am Land geparkt werden und die diesen Umstand durch das Anlegen eines Übungsheftes überleben. Ein Roman, der vorgeblich gar nicht auf die Zukunft hinauswill, eher mehr auf eine sich immer stärker abzeichnende Vergangenheit. Doch das Verschmelzen des Sprechaktes der Übung mit der Erzählung richtet das Buch streng auf ein Morgen aus. Die Exerzitien der Protagonisten, der Zwillingsbrüder sind letztlich Vorbereitungen auf das, was da kommen soll. Sie spielen für und um das Leben. Es sind Abhärtungs- und Lernprozesse und das zu Erwartende ist im Grunde eine sich stetig brutalisierende Welt, die aus dem Krieg wächst und neuen Krieg erzeugt. Der oder die Lesende wird mehr und mehr in den engen erzählerischen Zusammenhang zwischen dem „großen Heft“ und der Lebenserzählung, den Erinnerungen der Zwillinge gezogen, von Präsens zu Präsens der Übungen getragen, und entdeckt, dass er letztlich gar nicht auflösbar ist, dass das ganze Buch „die Spielregel“ darstellt. Unterstützt wird dieser Befund gerade durch die Beteuerung der Protagonisten, sie würden nicht spielen, sie würden nichts als lernen. Dass sie ihre Spielregeln akribisch in einem großen Heft vermerken, ist dabei nicht unwesentlich. Es ist allerdings kein Walkthru für eine Community, sondern ein strenges Überlebensprogramm, und zwar ein realistisches. Poetologische Bemerkungen, wie etwas aufzuschreiben ist, machen klar, dass das Bemühen um einen Realismus den Zwillingen zentral ist, dass für die schreibenden Brüder Kriterien wie Genauigkeit und Angemessenheit der Beschreibung, Wahrheit des Gesagten eine große Rolle spielen. Diese Kriterien müssen zudem durch die grausamen Übungen erst erarbeitet werden, sie stehen ihnen nicht einfach zur Verfügung. Realismus ist insofern etwas, das immer erst erreicht werden muss, etwas, das eine Richtung hat. Genauso wie das Kommende keine beschlossene Sache sein kann, und es auch heute in vermeintlich postpostmarxistischen Zeiten keine Welt geben kann als die, die auf eine Zukunft bezogen ist, kann die Darstellung des Realen immer nur in Realitätsübungen gewonnen werden. Realismus wird gewissermaßen zu einem sehr ernsten Spiel, das bei Agota Kristof seine Begrenzung in der Körperlichkeit findet, (bzw. in dessen Endlichkeit).
Was aber, wenn das Spiel auf einer gesellschaftlichen Ebene ausgetickt ist, wenn es keine Begrenzungen erlebt, keine Umfriedung, sondern es ubiquitär wird, sozusagen total, zeigt David Foster Wallace in seinem Roman „Infinite Jest“, der von Spielmotiviken durchzogen ist und der interessanterweise eine zukünftige Welt entwirft, die wir als unsere gegenwärtige, zumindest als gegenwärtig amerikanische erkennen müssen.
Es beginnt damit, dass einer der zentralen Orte die ETA ist, eine Tennisakademie in Boston, die das Spiel in eine stete Professionalisierungsbewegung schickt. (Tennis war interessanterweise auch für Gadamer das Beispiel des Spiels schlechthin) Verweise auf Spielwelten wie das in der ETA praktizierte Kriegsspiel Eschaton, closed circuit Situationen, die übergehen in bizarre Suchtszenarien mit Dart-Strip, das Vorhandensein mächtiger Minister für Spielelektronik und schließlich ritualisierte Tierquälereien, die in ihrer Beschreibung der komplexen Anordnung eines Spiels mit klitzekleiner Zukunftsoffenheit gleichen, führen den Spielbegriff auf zahlreiche Fährten, bis hin zum aleatorisch wirkenden Konstruktionsprinzip des Romans. Allerdings bindet Foster Wallace ihn stets an den Suchtbegriff. Seine Welt ist eine der Sucht, und so handelt der zweite große Strang des Romans auch in einem Wohnheim für Süchtige und in den AA-Gruppen mit ihrem verzweifelten Kampf um Nüchternheit. Es erscheint einem bald schon plausibel, dass in dieser Gesellschaft alle süchtig werden müssen, Sucht wird produziert, ob es um Unterhaltung geht oder um Leistung, immer findet sich dieser Impuls des unbedingt Draufseinwollens. Kein Wunder, schließlich leben wir im Kapitalismus, dem dieser Impuls in Form des steten Gewinnmaximierungsgebots innewohnt. Kapitalismus ist Sucht ist Spiel ist Krieg könnte die Gleichung heißen, die da aufgestellt wird, auch wenn die vom Autor geschickt eingebauten Gegenläufigkeiten sie andauernd unterlaufen.
Auch im realen Leben ist das Spiel ausgetickt: Der Finanzkapitalismus ist nahezu allumfassend geworden. Es ist offensichtlich, dass er eine auf Schuld und Verschuldung basierende Gesellschaft produziert und mit einer eigenen Theodizee einhergeht, wie man laut Joseph Vogl immer wieder an irrationalen Begründungsversuchen der Fachleute sehen kann. Ihm entspricht jene eingangs erwähnte zeitliche Struktur, die Gegenwart und Zukunft auf eiserne Weise ineinander verzahnt, sodass letztere bereits festgeschrieben ist. Jeglicher Möglichkeitsraum ist in der Gegenwart nivelliert, ja, „there is no alternative.“
Historie, könnte man sagen, löst sich auf. Insofern verfügt der Roman von Foster Wallace über eine eigene kommerzialisierte Zeitrechnung. Die Jahreszahlen in der Foster-Wallaceschen Zukunft erhielten Namen, keine heroischen wie nach der französischen Revolution, nein, Marketingnamen. So steht neben dem „Jahr der Inkontinzunterhose“ das „Jahr der Dove-Probepackung“, das sich wiederum neben dem – mein favorite – „Jahr der Milch aus dem Herzen Amerikas“ aufhält, das schon irgendeine Verbindung zu dem „Jahr des Perdu-Wunderhuhns“ aufweisen wird, alleine, ich weiß nicht welche, weil ich durch die mit der Namensnennung einhergehende Verräumlichung der Zeit in Verwirrung geraten bin und den roten kalendarischen Faden mehr und mehr verloren habe. Utopie wird genauso wie Zukünftigkeit verhindert, und selbst in den Farce-artigen revolutionären Gruppen der kanadischen Rollstuhlfahrer ist nicht mehr jener Sturm der Zeit spürbar, den Walter Benjamin noch beschworen hat.
Unmöglich geworden ist jener zeitliche Bezug, der in Heiner Müllers Aussage steckt, Theater solle eine Totenbeschwörung sein, damit die Toten auferstehen und hergeben, was an Hoffnung in ihnen begraben wurde. Auch Benjamins Engel der Geschichte fliegt verkehrt rum, aber erst von Heiner Müller erfahren wir, dass er auch direkt in die Gesichter der Menschen blicken könnte, und in ihren Augen sozusagen den Glanz der Hoffnung im Moment des Sterbens ablesen. Den Zeitpunkt dieses Blickwechsels kann man irgendwann in den 80ern verorten, als Benjamins „Thesen zur Geschichte“ mir schon wie ein Geschenk aus anderen Zeiten erschienen, die einem immerhin noch geläufig sein wollten, heute verstehe ich den Messianismus seiner zeitlichen Grammatik vermutlich gar nicht mehr. Wer sucht noch nach dieser Kraft, die in uns stecken soll und die wir auch den vergangenen Zeiten schulden? In Zeiten, in denen das einzige Wissen über Deutschland von Flüchtlingen aus Nordafrika, so eine Mitarbeiterin der Caritas, darin bestünde, es sei Sieger der Finanzkrise von 2008, hat sich der Historismus als Geschichte der Sieger in die Zukunft verlängert. Es bräuchte in diesen Tagen vermutlich einen Tigersprung in sie hinein, um aus ihr herauszureißen, was nicht schon verbucht, verwettet, in die Gegenwart hineinkalkuliert und so verobjektiviert wurde. Einen Tigersprung, nicht alleine um der Zukunft willen, sondern, um über die Gegenwart noch irgendwie zu verfügen. Denn derzeit ist wenig aus letzterer herauszuholen für Menschen, die nicht dem Johan Holtropschen Prinzip aus dem gleichnamigen Roman von Rainald Goetz folgen können oder wollen.
Erstaunlich ist diesbezüglich, dass der 1998 veröffentlichte Weltentwurf von David Foster Wallace heute immer noch als reine Gegenwartsbeschreibung fungieren kann, obwohl Foster Wallace spürbar noch nicht die ganze Wucht des Internet, der Onlinewelt aufnehmen konnte und oftmals sich an veralteter Medientechnik reibt. Vielleicht hat es aber auch mit einem etwas versteckteren zentralen Motiv des Romans zu tun, der Schuld, die der postoperaistische Philosoph Maurizio Lazzarato immerhin für das Organisationsprinzip aller sozialer Beziehungen hält. Lazzarato erklärt uns in seiner „Fabrik des verschuldeten Menschen“ (von 2012) dies mit einem Rückgriff auf Nietzsches „Genealogie der Moral“. Es werde im Neoliberalismus als eine auf die Zukunft gerichtete Ökonomie ständig eine Erinnerung der Zukunft produziert, um über sie zu verfügen. Das sei nur möglich, indem sie in einem merkwürdig subjektiv mitbestimmten Prozess – es geht ja ständig um die Bewertung und das Vertrauen in die Märkte – objektiviert werde. Das habe das Gefühl zur Folge, so Lazzarato, „in einer Gesellschaft ohne Zeit zu leben, ohne Mögliches, ohne bevorstehenden Bruch.“ Die Schulden neutralisieren die Zeit als Ort der Kreation neuer Möglichkeiten. Damit einher geht, so meine ich, die Negation der ursprünglichsten Eigenschaft des Menschen wie ich sie eingangs in einem Rückgriff auf Hannah Arendt formuliert habe. Wir machen keine Anfänge mehr, inzwischen sind wir dabei nicht nur interaktiv, sondern auch interpassiv geworden, das Schicksal haben wir aus einer merkwürdigen historischen Situation erst einmal erfolgreich in andere Länder auslagern können, bis diese plötzlich bei uns ankommen, über uns hereinbrechen wie es heißt.
Sicher, kann man einwenden, die Figur des verschuldeten Menschen gibt es schon lange auch jenseits der von Lazzarato beschriebenen Ökonomie. Schließlich werden in der christlich abendländischen Tradition seit Jahrhunderten die unterschiedlichen Formen des Schuldverhältnisses durchgespielt, ein Spiel, das irgendwann bei Kafka einen Höhepunkt erreicht. Mit ihm steht man einfach immer „Vor dem Gesetz“. Dieses prinzipielle Schuldverhältnis in Verbindung zur Angstproduktion zu setzen, unternahm Gilles Deleuze in seinem Kafkabuch. Er äußerte darin, dass Schuld eine Scheinbewegung sei, auf die man festgelegt werde, damit man sich selbst nicht mehr rühre und seine eigenen Interessen wahrnehmen könne. Schuld könne deswegen kein literarisches „Thema“ sein, sondern sei eine Verkettung, eben eine Dynamik. Ihr entspreche das entpersonalisierte Gesetz, das Kafka als alles abdeckende Instanz gesehen habe, bereits ortlos, sich stets ins Nebenzimmer zurückziehend, und nur im Urteilsspruch zu Tage tretend. Im neoliberalen System ist diese Ortlosigkeit sozusagen auf alles übergegangen. Die fortlaufenden Auswüchse der Schuld haben sich tiefer denn je in unsere privaten und öffentlichen, konkreten und abstrakten Situationen hineingegraben, und es gibt nicht einmal mehr das Schloss, das als räumliche Repräsentanz fungieren könnte. Nur noch dessen Türriegel, die man für einen Augenblick zu fassen kriegt.
David Foster Wallace wusste um diese Türriegel, es sind oft erratische kleine Blöcke, und seine Welt der Sucht ist notgedrungen eine hoch verschuldete. Eine, die irgendwie weiterwurschtelt, obwohl sich kein Streifen am Horizont abzeichnet. Seine Süchtigen helfen sich mit einer entpersonalisierten religiösen Instanz, für die einer seiner Protagonisten Don Gately so gar kein Bild mehr finden möchte, was bei ihm natürlich Schuldgefühle erzeugt. Er ist Bankrotteur und stottert sein Leben ab, in dem es kein Heil geben kann.
Wie kann da noch etwas geschehen? Welche Formen von Handlungen bleiben? Und ist Handlung noch eine virulente Kategorie? Ist es das Spiel, das David Foster Wallace hier einbringt, das die Handlung der griechischen Tragödie ersetzen kann? Motivisch, dramaturgisch? Er hantiert zumindest obsessiv mit Regeln, detailreichen Ausführungen, fantastischen wie gleichzeitig schäbigen Umsetzungen. So wirkt das Kriegsspiel Eschaton wie das ewige Second Hand Spiel, abgekupfert, das die „400 toten Tennisbälle“ (S.465) aus dem Leistungsbereich zu recyceln versteht, mit absurden militaristischen Strategiezügen, die wie eine barocke Banalisierungsmaschine wirken.
In dem als aleatorisch zu bezeichnenden Erzählprinzip verliert sich die Zukunftsbehauptung in den zahlreichen Realismen und Kontingenzen beinahe ganz. Hier sieht man eben nicht, wie man später siegt, wie es über das Tennisspielen auf S.248 heißt. Foster Wallace löst das Problem der Offenheit durch Unübersichtlichkeit, sowie einer sehr fein ausdifferenzierten Sprache, mit Vielsprachigkeit. Der monströse Bau des Romans, der durch Lesezeichen eine eigene Lesegymnastik erzwingt mit seinem ständigen Blättern nach vor und zurück (bei einem Gewicht von 2kg kann man schon von einem sportiven Ereignis sprechen), und mit seiner Dynamik der vielen Spiele, einer sich verzweigenden Spielwelt, in der eben keine Computerspielentität wie bei Tim Etchells ins Zentrum rückt, sondern unterschiedliche Spielvorgänge ineinander und aneinander geraten, sich oftmals konkurrieren, selbst durchzogen von den Kommerzialisierungs- und Medialisierungsvorgängen einer komplett kapitalistischen Welt. Das Nahrungskettenmotiv (S.162) taucht nicht umsonst auf und wirkt beinahe wie ein etwas hilfloser Erklärungsversuch.
Alleine die schon erwähnte Bezeichnung der Jahreszahlen zeigt den sprachlichen Furor des Autors. Das Jahr der „mäuschenstillen Maytag-Spülmaschine“, sowie der „Yushtyu 2007 Mimetische-Auflösung-Patronensicht-Hauptplatine-Leicht-Zu-Installieren Upgrads Für Infernatron/Interlace TP-Systeme für Heim, Büro oder Unterwegs (sic)“, das aber meist abgekürzt wiedergegeben wird (S.321f), zeigen jene Überführung von historischer Ordnung in eine Suchtstruktur der Zeichen. Gewisse verspielte und vom Marketing obsessiv betriebene Eigenheiten des amerikanischen Sprachgebrauchs, so der Abkürzungswahn oder dies Alles-in-ein-Wort-packens werden als Symptom begriffen, die sozusagen süchtige Sprache der Unterhaltungsindustrie hat überhand genommen und wird nur durch (vielleicht ehemals leistungsbezogenes, jetzt sinnlos erscheinendes) Nerdtum konterkariert, wie durch die „Militanten Grammatiker von Massachusetts“ (S.415).
Da ist es nur folgerichtig, dass seine fiktiv fürs angeblich Zukünftige entworfenen Orte - die Tennisakademien, Psychiatrien und Selbsthilfegruppen - bereits existieren, ein Kunstgriff, den auch Gary Stheyngart mit seinem New York und der deutsch-argentinische Autor Juan S.Guse mit seinen gated communities in Südamerika, sowie Dave Eggers mit seinen kalifornischen Zusatzvarianten zum Silicon Valley unternommen haben. Aber erst seine Ästhetik, seine Sprache, der narrative Aufbau, der ein Verirren in dieser Zukunft erst möglich macht, lassen ihn aus der Genrebehauptung herauskommen. Wir haben es hier nicht mit einem Plot, einer fiction zu tun, die uns in andere Welten entführt und uns nebenbei etwas über unsere Gegenwart erzählt, wir erhalten hier einen traurig wie komischen Weltroman, der uns komplett fordert. Er bezieht sich in seinen zahlreichen Gängen und Wegen nicht auf eine verkleinerbare Totalität, es ergibt sich aus ihr eben nicht das eine Bild, das reduziert, einfach paranoisch, zu simpel daherkommt und deswegen immer im Genre mit Augenzwinkern zurückbleiben könnte.
Nur wer handelt in dieser als zukünftig markierten Gegenwart noch? Ist es tatsächlich nur noch der Unternehmer nach Holtropschen Strickmuster? Nein, würde Foster Wallace sagen, aber für das Nachdenken über Zukünftigkeit ist diese Figur gleichwohl interessant. Der Bertelsmann-Manager Middlehoff galt als Vorbild für die Unternehmerfigur Johan Holtrop aus dem gleichnamigen Buch von Rainald Goetz von 2012, der den Vorstandsvorsitzenden genauso erzählt, wie man es von ihm erwartet. Als irgendwie solitäre Figur, jemand, der heraussticht und gleichzeitig beispielshaft ist, der die Karriereleiter hinaufgestolpert ist, um am Ende sich in einem Zimmer wiederzufinden, wo er aus dem Weiß der Bürozimmerdecke die Zukunft liest, ein „Zukunftsfreak“, wie es einmal heißt, der sich vor der „Vergangenheitskrätze“ ekelt, die darin bestünde, einmal zurückzusehen, wen man alles hinter sich gelassen hat. Und wir Lesenden starren in jener typischen Mischung von Bewunderung und Abscheu diese moralisch konstruierte Figur an und lernen nochmal mehr, dass nur jemand, der hinter sich zu lassen versteht, egal, ob Konkurrent oder Partner, zukunftsfähig ist, auch wenn der eigene Fall naht. Mehr und mehr wird die ganze Welt zum Widersacher. Sie bleibt zurück und wird flugs Holtrops Vergangenheit, immer schon vorbei, immer schon gestrig im Vergleich zum viel aktuelleren Ego, dem alleine jeglicher Aktualitätsgrad gebührt.
Aber Gottseidank leben wir ja in einem Vexierbild, was das Verhältnis von Gegenwart und Zukunft angeht, und so hat, wie ich eingangs schon erwähnte, nicht nur alleine die Gegenwart die Zukunft beinahe vollständig konsumiert, auch stürzt die Zukunft in die Gegenwart und vernichtet diese nahezu. Wir müssen auch obsessiv mit ihr beschäftigt sein, wir kalkulieren sie, malen sie aus, sie besetzt unsere ganze Vorstellungskraft. Die dazu notwendigen Szenarien, früher auch von Schriftstellern gebaut, werden mehr und mehr vom Risikomanagement entworfen, von Investmentbüros, von den PR-Abteilungen irgendwelcher Lobbyisten, Politikberatungsagenturen. Die kollektive Phantasie kann sich nichts mehr anderes vorstellen, und wenn doch, ist es radikal rückwärtsgewandt, wie man an Pegida, AfD und anderen rechtspopulistischen Strömungen sehen kann.
Was, wenn Zukunft im ökonomischen Denken all unsere Fiktionalisierungsenergien bündelt? Kann da überhaupt noch der Musilsche Möglichkeitsraum helfen, der vor 85 Jahren eröffnet wurde als Salongewitter mit Sektionschefs und Paralleljahren und seither durch Autoren- und Politikermünder spaziert? Sie mit Konjunktivformen füllt, die es eigentlich in sich haben könnten. Denn schließlich wird in dieser grammatischen Form das Hier und Jetzt ausgehebelt, nein, nicht nur ausgehebelt, sondern einer steten Suchbewegung ausgesetzt. Wo ist das Hier und Jetzt des Sprechers, fragt sich der Konjunktivhörende. Man beginnt es zu suchen und wird mit dem nächsten Konjunktivsatz wieder von ihm abgerückt. Eine Nichtstelle, ein inexistenter und doch hoch aufgeladener Raum. So ein Konjunktiv kam auch in meinem Schreiben nicht aus dem Nichts, geerbt habe ich ihn nicht nur von Musil, sondern noch viel deutlicher von einem anderen Österreicher (der Konjunktiv hat sein Hauptlager in Österreich aufgestellt, das wissen wir heute), nämlich Ernst Jandl. „Aus der Fremde“ heißt das Stück, nein, die Sprechoper, die der österreichische Schriftsteller 1980 in reinem Konjunktiv verfasst hat. In ihm spricht hauptsächlich ein Alter-Ego-Schriftsteller über seinen Alltag, der merkwürdig melancholisch entrückt ist. Darin wird ebenfalls das Hier und Jetzt aufgegeben, aber mehr in Kombination mit dem sprechenden Subjekt, das im Grunde über diese Enteignung trauert.
Der Konjunktiv zerschneidet den Bühnenraum, bzw. fügt er sozusagen eine fünfte Wand ein, eine externe Sprecherposition, eine Art Mehrzeitigkeit des performativen Sprechens. Er ist eine Spaltmaschine. Zwischen dem sprechenden Subjekt und dem Subjekt der Sätze, zwischen dem „Hier und Jetzt“, dem „Eben noch“ und dem „jetzt gerade“, dem „Hier und dort“, dem Sprecher und dem Sprechenden. Er macht eine Zweizeitigkeit und gleichzeitig eine Interpersonalität auf, von der ich doch stark ausgehe, dass sie brauchbar sein könnte. So kann man Handlungsräume zeigen und gleichzeitig verschwinden lassen. Die Frage, wer noch handelt, erhält im Konjunktiv ein neues Licht. Er geht der ständigen Verschiebung der Handlung nach, die wir in der öffentlichen Rede erleben.
In meinem letzten Stück „Normalverdiener“ hat mich das interessiert, wie man seine eigene Gegenwart als Handlungsmöglichkeit ständig verpassen kann, und zwar nicht als einzelner, sondern als ganzes Milieu, mehr noch, als Schicht, als Mittelschicht, d.h. jener Schicht der Nicht-Kapitalisten, die ständig alles nur noch aus der Retrospektive betrachten kann, quasi post mortem Optimierungsvorgänge vornimmt. Dass sich das mit dem Thema der Ökonomie verbindet, mit der Frage nach der Klassenzugehörigkeit, kommt nicht von ungefähr. Auch die Zukunft kann man im Voraus verpassen.
In „worst case“, jenem Stück, das sich mit dem Katastrophismus, der Katastrophengrammatik unserer Zeit beschäftigt, überdeckt das ständige Entwerfen der Szenarien, das Denken in Szenarien die reale Situation derart, dass die Reaktion auf die Realität nur mehr in der ständigen Verrückung dieser Szenarien besteht. Im Realen ist das Handeln blockiert. Eine Parodie jenes ständigen Korrekturvorgangs, der selbst nur just in time vorgenommen werden kann und unweigerlich in die absolute Katastrophe laufen muss, weil er eben nicht sieht, worauf er zusteuert, obwohl er nichts anderes tut, als sich in Blickrichtung Zukunft zu halten. Das Bild der entworfenen Katastrophe wird sich in jedem Fall nicht mit der real eintretenden decken.
Dass dem konjunktivischen Schreiben stets etwas Performatives, Rhetorisches, Mündliches anhaftet, schafft einen anderen Bezug zur Zeitlichkeit. Roland Barthes hat schon in seinem „Rauschen der Sprache“ festgestellt, dass die gesprochene Sprache sich fest mit der Gegenwart verbindet. „Der treibende Mittelpunkt der sprachlichen Zeit ist immer das Präsens der Äußerung“, es nistet darin sozusagen. Im schriftlichen Text gebe es eine einzige Vergangenheitsform, die diesen Präsensbezug transportieren könne, fügt er hinzu, der Ariost. Jene Zeit, die punktuell, momenthaft, quasi aktualisierend das Vergangene zu erfassen sucht. Mir ist nicht klar, ob es so eine literarische Zeitform auch für die Zukunft gibt oder ob das bloß in Variantenbildung ausfiele, vermutlich eher dominiert von dem Wörtchen „oder“ als von der Wortreihe „und und und“.
Die unbestimmte Zukunftsform hingegen ist im Gegensatz zur unbestimmten Vergangenheitsform unmöglich. In der Literaturwissenschaft ist diese durch Käthe Hamburgers episches Präteritum bekannt geworden, das den Verlust der grammatischen Funktion der Vergangenheitsform bezeichnen sollte. (Interessanterweise wird gerade Science Fiction meist in Vergangenheitsform geschrieben, als wäre das Präsens zeitlich zu bestimmend.) Diese Verschiebung ist allerdings mit der Zukunftsform nicht möglich, die grammatische Funktion des Futurs bleibt immer markiert, sie tritt hervor und kann nicht zurücktreten. Es ist stets eine Bewegung weg von dem erzählerischen Standpunkt, eine Prolepse, eine Vorausschau. Umgekehrt benötigt man die grammatische Form des Futur für literarische Zukunftsentwürfe auch gar nicht, es reicht die Genrebehauptung, die altbekannten Motivlagen des Zukünftigen, die seit allzulangem variiert werden: Technikbezogen, auf totalitäre politische Systeme fokussiert. Entschiedener kann keine Gegenwartsbeschreibung sein als die im Science-Fictionlicht überdeutliche Optik und gerade deswegen so weit weg von einem literarischen Präsens wie es Rolf Dieter Brinkmann mit seinem „jetzt jetzt jetzt – ad infinitum!“ praktiziert hat.
Brinkmanns absolute Gegenwärtigkeit ging ja auch einher mit einem Misstrauen gegenüber der zeitlichen Bindung in jegliche Art von Historizität. Geschichte ist Lüge. Es geht weiter in seiner absoluten Gegenwartsemphase, in der jede Menge Abwendung von einem leergelaufenen Morgen einer Normierungsgesellschaft steckt, der Verlogenheit einer zeitlichen Einbindung in einen Wachstumsimperativ, der nur Abstumpfung, Zivilisationsmüll und Leere mit sich bringt. Brinkmann begegnet dem durch ein Abfalldiktat in seinen Schnitten, Rissen und Collageformen. Heute hat dieses Beharren auf dem Jetzt ein wenig an Kraft verloren, so sehr wird es ringsum von Infotainment und Unterhaltungselektronik praktiziert und hat schon längst Warenform der schäbigsten Qualität erlangt: Die Pseudopoppifizierung. Von der Gegenwartsemphase wie sie Hubert Fichte oder eben Rolf Dieter Brinkmann in den 70ern, aber auch noch Rainald Goetz in den frühen 90ern geäußert hat, sind wir jedenfalls weit entfernt. Ein flanierendes Buch wie „Open City“ von Teju Cole erscheint seltsam nostalgisch und ist auch tatsächlich durchdrungen von Erinnerungen, allerdings gibt es auch das Beharren auf das „epische Präsens“, Bücher wie die von Knausgard, die eine neue Form des Gegenwärtigen suchen.
Aber vielleicht sollte man diesen Gegenwartsbegriff sich noch einmal genauer ansehen. Auf seine ursprünglich krisenhafte Bedeutung haben mich kürzlich die Literaturwissenschaftler Karin Krauthausen und Stephan Kammer hingewiesen, erst einmal etymologisch dem Grimmschen Wörterbuch nach. Gegenwart bezeichnet darin ein feindliches Gegenüberstehen, den antagonistischen Moment eines Kampfes, eines Konflikts und insofern heute der Krise. Es war in jedem Fall kein neutraler Punkt zwischen gestern und morgen, keine Durchlaufstelle, sondern ein auf eine Entscheidung hindrängender Moment (die Entscheidung ist noch nicht gefallen, fällt im ständigen Präsens sozusagen nie, wird immer aufgeschoben). In der Kunst wird dieser krisenhafte Gegenwartsmoment interessanterweise meist konsumierbar gemacht durch das Vorauswissen oder Mehrwissen der Rezipienten, wie das Alexander Kluge für den konventionellen Spannungsbegriff in „Utopie Film“ mit dem Bild der „Bombe unter dem Tisch“ veranschaulicht hat. Die Entscheidung ist strukturell schon bekannt, ähnlich einer simplen einzelnen Spielregel. Das prinzipielle Vorauswissen ist auch jene Kraft, die längst im Dienst der Risikokalkulationen steht, (und vermutlich würde uns hier eine Portion Luhmann helfen). Wir wissen, was äußerst wahrscheinlich passieren wird, und was ausschlaggebend ist, wir verfügen über mehr Zukunftswissen als die agierenden Figuren, die am besagten Frühstückstisch sitzen. Hat sich dieser Wissensvorsprung verändert und immer mehr das Aussehen desjenigen von Michael Douglas dargestellten Brokers in „Wallstreet“ angenommen? Zumindest unterscheidet er sich von diesem Investmentwissensvorsprung schon alleine dadurch, dass wir empathisch mit den Figuren sind und einen Wunsch mit uns tragen, wie die Sache denn ausgehen möge. Um der Figuren willen und nicht um eines Wertgewinns wegen. Aber vielleicht nivelliert sich dieser Unterschied in einer Gesellschaft, in der alles von der Bewertung und dem Wert abhängt, und selbst etwas wie Empathie davon durchdrungen ist? (Eva Illouz lässt grüßen.)
Die in dieser Spannung verbleibenden Zuschauer kleben jedenfalls allzufest an diesem Moment: Wie wird sich der Held entscheiden? Oder gleicht unser Blick doch eher dem Tennismatchblick von David Foster Wallace? (Und warum wird dieses Spiel von ihm ausgerechnet als eines der „Expansion, des aleatorischen Flatterns unkontrollierten, metastasierenden Wucherns“ (S.119) beschrieben, als müsste er verzweifelt gegen das Hin und Her der Ballwechsel anschreiben?)
Anders formuliert: Können aus dieser Gegenwart noch Überraschungsmomente resultieren? Das Magnetfeld von Norm und Ausnahme hat sich so sehr umgepolt, dass das nur schwer zu behaupten ist. Dass der Ausnahmezustand heute mehr und mehr die Position des Normalzustands eingenommen hat, die Bombe sozusagen permanent unter dem Tisch tickt, wussten zumindest die Unternehmensberater zuerst.
Ich erinnere mich an ein Buch, das mir über Dirk Baecker, jenem Soziologen des postheroischen Managements in die Hände gefallen ist: „Das Unerwartete managen – wie Unternehmen aus Extremsituationen lernen“ von Karl E. Weick und Kathleen Sutcliffe, in der gerade die überraschenden Extremsituationen als die zu erwartende Ausgangslage für unternehmerische Entscheidungen formuliert werden. Manager sollen sich nicht mehr im unternehmerischen Alltag ausruhen, sondern stets on high alert agieren. Diesen Zustand herzustellen, gelingt natürlich nur über spezielle Aufmerksamkeitstechniken, die in Unternehmen eingeführt werden müssen und viel mit der permanenten Evaluation zu tun haben. Es ist eine Form der flexiblen, dynamischen Kontrolle gefordert, eine Forderung, die sich mehr und mehr auf alles überträgt und die wir in David Foster Wallace AA-Gruppen als Kontrolle der Krankheit wiederfinden.
Die Strukturen eines Katastrophenkapitalismus weisen erstaunliche Analogien zu den Suchtstrukturen auf, mehr noch, sie arbeiten eng zusammen, sodass man Sucht wie ich schon ausführte nicht als Folgeerscheinung jener haltlosen Kontrolle bezeichnen kann, eher schon als ihr innewohnender Impuls. Vielleicht könnte man sie auch als Zukunftssucht bezeichnen, wie das Joseph Vogl in seinem „Gespenst des Kapitals“ tut. Nicht nur ist die Ressource Zukunft immer schon vollkommen von der Gegenwart konsumiert, also bereits Vergangenheit, auch treibt das radikale Bedürfnis nach mehr Zukunft der Märkte diese in die weitesten Verästelungen hinein, vergrößert und verkleinert deren Horizont gleichzeitig auf der ständigen Suche nach weiteren Optionen, die möglichst objektiviert werden müssen. Das Unvorhersagbare verschwindet mehr und mehr in den Ritzen, und es ist fraglich, wie man es da wieder herausbekommen kann. Jemand wird sich darum kümmern müssen!
Die Poesie!, schlug der Lyriker und Essayist Joseph Brodsky in einer aristotelischen Abwandlung vor: „Poetry is the art oft the unpredictable“! Die Vorhersagbarkeit, jene heiß begehrte ökonomische Kunst, ist nämlich auch ein Verlust, den wir freilich kaum noch als solchen wahrnehmen. Nur ästhetische Verfahren können uns in jenes Terrain der Unvorhersagbarkeit zurückbeamen, das uns einen kritischen Realismus ermöglicht, während Big Data daran arbeitet, Minority Report Wirklichkeit werden zu lassen. Und wir wissen aus dem Hollywoodfilm, dass diese Form der Vorhersage nichts als ein Kontrollvorgang der Mächtigen über die Zukunft ist. Bald wissen wir zuviel über sie und haben keine Gegenwart mehr, alleine nur noch Aktualisierungsvorgänge.
Literatur als Kunst des Unvorhersagbaren kann natürlich nicht für Stabilität sorgen. Sie macht das Nichtwissen sichtbar, das Nichtzeigen. Das Bewusstsein über das Nichtverstehen in einer Welt, in der sich die Maschinen, Geräte, Systeme, Algorithmen praktisch von selbst verstehen. Das mag modern klingen, etwas nach der „Dialektik der Aufklärung“, die wir irgendwie als schon verstanden abhaken wollen, aber es ist eben so: Nur solange Fragen offen bleiben, können wir noch miteinander reden. Niemand hat das deutlicher gemacht als der Schriftsteller Peter Waterhouse in seinem 2006 erschienen opus magnum (Krieg und Welt), das sich neben des im Titel anklingenden Themenkomplexes vor allem der Frage der Übersetzung widmet. Waterhouse macht aus ihr einen grundlegenden poetologischen Ansatz. Übersetzung ist nicht nur ein Vorgang, der zwischen unterschiedlichen Sprachen stattfindet, sondern auch zwischen unterschiedlichen Zeiten. Schließlich, so Waterhouse, sehen wir uns gegenwärtig dank der unabsehbaren Folgen unserer technischen Innovationen vor Probleme gestellt, die eigentlich unlösbar sind. Wie soll ich beispielsweise angesichts des nuklearen Mülls eine Zeitspanne von 100.000 Jahren kommunikativ überbrücken? Wie kann ein Endlager als gefährlich bezeichnet bleiben, also die Kennzeichnung als ein gefährlicher Ort über 100.000 Jahre hindurch verständlich bleiben? Waterhouses Erzählerfigur befindet sich auf dem Terrain eines Indianerreservats in Nordamerika, auf dem ein Endlager gebaut werden soll und sieht sich einer doppelten Unverständlichkeit gegenüber. Einer aktuellen gegenüber den Einwohnern und einer zukünftigen gegenüber den Nachgeborenen. Keine Datenträger halten so lange, keine Sprache steht fest. Der Erzähler kommt angesichts der ersten aktuellen Kommunikationsproblematik, den schwierigen Übersetzungsvorgängen mit den native Americans zum Schluss, dass nur die mündliche Überlieferung bleibt, um zukünftige Generationen vor den Gefahren eines Endlagers zu warnen – weil sie einem ständigen Übersetzungsprozess unterworfen ist. Nur die mündliche Überlieferung leistet die ständige Aktualisierung, nach und nach wird die Botschaft übersetzt, und auch, wenn diese sich dabei durch die Übersetzung wandelt, ist sie doch der einzige dynamische und zukunftsoffene Prozess, der niemals in der falschen Zeit zurückbleibt. Denn für diese warnende Kommunikation ist nur die ständige Gegenwart richtig. Es ist die einzige Chance, in diese ferne Zukunft zu gelangen. Dabei gelte es, die Überlieferung nicht einem einzelnen Menschen zu überlassen, sondern einem Chor. Die Gemeinschaft der Sprechenden trägt das Wissen weiter. Doch vielleicht, merkt Waterhouse in seiner typisch leisen ironischen Art an, wandelt sich in diesem Prozess die Warnung auch in ein Lob?
Diese Pointe zurücklassend, die nebenbei jegliche Risikokalkulation ad absurdum führt, entwickelt er sein ästhetisches Programm der Weltübersetzung und die Fragestellung, wie eine realistische Poetik, also eine, die es mit der Gesellschaft, der Welt und den Verhältnissen insgesamt aufnehmen möchte, funktionieren kann. Nicht das eigene Wort, sondern das zugeneigte, um Verständnis ringende Wort, das Wort „wohin“, das „hörende“ Wort. Es ist mit einer eigene Zeitlichkeit versehen, und: es ist ein Kommunikationsakt, der stets sich auf andere bezieht, gleichzeitig „echtes“ oder „wahres“ Verständnis als unerreichbar postuliert und doch als zu erringend deklariert. Es sind Korrekturläufe damit verbunden, ganz anders als jene Evaluierungen eines Johan Holtrop, und auch andere als jene, die man in der eingangs erwähnten Performance „Tomorrows Parties“ erleben kann. Die 400 toten Tennisbälle von David Foster Wallace werden zur Sprache und beginnen sich sozusagen ständig zu wandeln. Das Spiel wird zu einer Form der Auseinandersetzung um die Spielregeln, während man es gleichzeitig spielt, ein Spiel, in dem es niemals Sieger geben DARF, sonst ist es insgesamt verloren.
Peter Waterhouse ist natürlich Pazifist, und ebenso natürlich ein Reisender. Seine ironische Korrektur des Sprechakts, die in ihm eine ständige Bewegung erzeugt, erfordert analoge Bewegungen, und natürlich entspricht eine gewisse Form der Reiseliteratur am ehesten seinem Prinzip. Reiseliteratur auf seine Zukünftigkeit zu untersuchen wäre ein ganz eigenes Thema, das kann ich heute nicht leisten. Ich weiß nur, in ihr richtet sich in der räumlichen Bewegung zwar automatisch der Zeitpfeil in Richtung morgen aus, aber doch gibt es gewaltige Unterschiede. Ich frage mich, wieso ich stets diese Form der Reiseliteratur suche, die diesen Zeitpfeil betont, ob es sich um Bücher von Hubert Fichte, Annemarie Schwarzenbach, Nicolas Bouvier oder Tirdad Zolghadr handelt. Ist deren Form der Verräumlichung etwa eine weitere Möglichkeit des Ausbruchs aus der festgefahrenen Umklammerung unserer Zukunftssucht?
Die Verschränkung von Zeit und Raum ist ja für die Literatur und Theorie gleichermaßen grundlegend. Auf der einen Seite finden wie selbst in der naturwissenschaftlichen Sprache stets räumliche Metaphern, wenn es um die Zeit geht , und umgekehrt erleben wir in der Literatur als einem diachronen Medium stets eine Verzeitlichung des Raumes. Er gerät ins Nacheinander der Vorstellung.
Dass unsere reale Geographie aber insgesamt einer imaginären Zeitlichkeit unterworfen ist, also Historie sich in Territorium gewandelt zu haben scheint, macht zwar manche Formen des Tourismus interessant, es ist aber auch eine der größten Bedrohungen unserer Zeit. Das, was man den Rückfall in Geschichte bezeichnen könnte, eine Fiktion, die vielleicht auch nicht weiterhilft, weil es ja Gegenwart ist, und man nie wirklich zurück kann. Geographie scheint jedenfalls nicht aus koexistierenden Ländern zu bestehen, sondern mehr und mehr aus koexistierenden Zeiten, denen ein neues great game unterliegt um die Vorherrschaft im Nahen und Mittleren Osten, in Osteuropa und im nördlichen und zentralen Afrika, in das wir wechselnde Vergangenheiten delegieren. Aber auch umgekehrt gedacht: Wie schnell sagen wir: Israel ist unsere Zukunft, Ungarn ist unsere Zukunft, Polen ist vielleicht ebenfalls unsere Zukunft, wer weiß, vielleicht ist der Kongo schon so lange unsere Zukunft – das macht zumindest David van Reybrouck in seinem Standardwerk über dieses Land, die USA war die längste Zeit unsere Zukunft, das haben wir jetzt vielleicht abgeschafft, wir in Deutschland, Russland – da stocken wir und können augenblicklich nicht recht einordnen, inwieweit genau sie unsere Zukunft sein könnte.
Wir sind in jedem Fall von diesen Zukünften umstellt, die uns mehr und mehr über das Versagen der eigenen demokratischen Strukturen vorführen wollen, und als Erwartungsszenarien jegliche reale Szene übermalen können wie das in Leilat al Qadr, einer Erzählung der israelischen Autorin Liat Elkayam, geschieht. Das paranoide Mindset der Protagonistin wird darin zum Movens einer eigentlich sehr touristischen Reiseerzählung. Drohende Bombenszenarien und terroristische Gewaltexzesse schieben sich stets vor die Perspektive von Strand und Touristenattraktion, die Gewalt ist sozusagen immer schon da, bevor sie eintrifft, und, so könnte man weiterfolgen, produziert diese erst. Diese Fiktion ist sozusagen ins Reale ausgewandert und schlägt von dort zurück, sie ist kein Vehikel von literarischer Weltaneignung mehr, sondern Teil der Architektur der Macht. Ob es sich um englische Wohnungsbauplanung „security by design“ handelt, die social housing in Knastzonen verwandelt, bis deren Bevölkerung tatsächlich in Knästen landet, oder um das fiktive Umsatzplus der Konzerne, das laut der Soziologin Saskia Sassen reale Territorien kreiert jenseits der politischen Gegebenheiten.
Weit weg haben wir uns von dem Gedicht von Paul Celan entfernt, in dem von den „Flüssen nördlich der Zukunft“ die Rede ist, in der man die Zeit noch durch ihre Territorialisierung entrücken, zerschneiden, utopisieren konnte. Utopisieren? Immerhin heißt es bei Celan: „In den Flüssen nördlich der Zukunft werfe ich das Netz aus, das du zögernd beschwerst mit von Steinen geschriebenen Schatten.“
Heute hat kann die Metapher nichts Utopisches mehr transportieren, mehr erschrecken. Sie sehen, ich würde hier gerne durch die eingangs erwähnte Drehtür mit der Aufschrift Realismus wieder herauskommen und habe mich doch verheddert in der Frage, wie man angesichts dieser Situation den Realismus noch scharf machen kann. Was bleibt noch? Das Überholmanöver!, haben ja die Akzelerationisten frei nach Dada und Futurismus gerufen. Doch der Aufruf zur literarischen Beschleunigung fällt nach all der Moderne schwer angesichts des Befunds von rechenmaschinenhaftem Hyper-Stillstand, sie wäre außerdem eine Technik, die der Sprache der Sieger entspricht. Überholen durch Einfrieren lautete der letzte Vorschlag eines Don De Lillo. „Null Grad Kelvin“, in diesem Herbst erschienen, greift erstaunlich einleuchtend das Thema auf. Allerdings ist es in diesem Buch der andere, der Vater, bzw. die Mutter, die sich das Überholmanöver leisten darf, nicht die Erzählerfigur. De Lillo hat begriffen, dass das Überholen ein Privileg einer gewissen Schicht, einer stets anderen Generation, nämlich der der Gewinner ist, es steht uns einfach nicht mehr zur Verfügung.
Überholmanöver waren in der Literaturgeschichte allerdings erst einmal ganz klassisch Adressierungen, ob es sich wie bei Arno Schmidts „Gelehrtenrepublik“ um eine zukünftige Leserschaft oder bei den „Letzten Tagen der Menschheit“ von Karl Kraus um ein Marstheater handelt, das schon mal angekommen in der fernen Zukunft auf unsere nahe Gegenwart blickt. Es ist ein wenig die Praxis des umgedrehten Fernrohrs, oder aber auch die von Hase und Igel. Die Frage wird immer erst einmal sein: Wo steht der Hase? Und: Wo steht der Igel? Die Karl Kraussche Apokalypse von 1908 hatte zumindest ein genaues Zukunftsrestdatum, den 1.4.1909. Welches Datum würden wir heute setzen? Und: Findet überhaupt irgendeine Bewegung statt? Vielleicht geht es nicht so sehr ums Überholen, mehr um Rahmenbildung, d.h. um ins Verhältnis setzen von unterschiedlichen Zeitschichten?
Gerade die Theaterliteratur hat jede Menge Rahmentechniken entworfen, mit denen solche Relationen gebaut werden können, Peter Weiss Marat/Sade von 1962 spielt dieses Spiel genauso durch wie manch postdramatische Arbeiten, so die des Kroaten Dino Pešut „Der (vor)letzte Panda oder die Statik“ von 2015. Ob mit der Reibung von Narration und Performance, ob über inszenatorische Ebenen erzählt, entscheidend ist, dass diese zeitlichen Rahmungen, die unterschiedliche historische Situationen aufeinander beziehen und dabei dynamisch bleiben. Es ist, wie man schon bei Peter Weiss sehen konnte, niemals ganz klar, in welchem Rahmen man „eigentlich“ steht. Mehr im Irrenhaus danach, oder in der französischen Revolution währenddessen. (Und insofern fallen die Inszenierung auch sehr unterschiedlich aus). Es sind Gewichtungen.
Auch Arno Schmidts „Gelehrtenrepublik“ hat durch seine übersetzende Zweigleisigkeit einen Entwurf der Historizität geliefert, die zwischen den verschiedenen Zeiten Teilchen wandern lässt, und klar macht, dass nicht nur das Science-Fiction-Genre dünnwandiger und poröser ist als eigentlich angenommen, sondern auch der eigene historische Rahmen, innerhalb dessen wir uns angeblich bewegen. Vielleicht geht es heute umso mehr darum, unsere eigenen verdrängten Zwei- oder gar Mehrzeitigkeiten zu entdecken? Literarische Texte wären mit Sicherheit der maßgebliche Ort für diese Recherche, alleine schon, weil sie schnell und langsam gleichzeitig sein können, weil sie zeitliche Konstellationen bieten, Zeitarchitekturen sind und die allgemeine gesellschaftlichen Zeitorganisationen spürbar machen.
Den Taktungen Widerstand zu leisten, ohne sie einfach zu negieren, könnte eine Devise sein, um das Tier, das laut Hannah Arendt anfangen darf, das zum Anfangen begabte, befugte, losgeschickte Tier wieder zum Vorschein kommen zu lassen.