Karin Krauthausen: “ob das jetzt das interview sei?”
Das konjunktivische Interview in Kathrin Rögglas Roman wir schlafen nicht
Der Roman wir schlafen nicht von Kathrin Röggla gibt sich den Anschein des Dokumentarischen: Das Buch besteht ausschließlich aus Interviews mit Vertretern der Consulting-Branche. Zudem werden die interviewten Personen zu Beginn mit Name und Beruf aufgezählt. Das Setting auf einer Fachmesse scheint für die Consulting-Branche zwar eher ungewöhnlich, aber die Auswahl der Personen ist exemplarisch: Ein Großteil der Interviews findet mit einem Senior Associate und einem Partner statt, die für den Bereich Strategie-Beratung stehen. Daneben werden Vertreter der Implementierung interviewt, die an der konkreten Umsetzung der von den Consulting-Firmen entwickelten Strategien in den betreuten Unternehmen arbeiten. Da ist die Key Account Managerin, die für den Kontakt zu den Großkunden zuständig ist, und der IT-Supporter, der den Computer-Bereich abdeckt. Und es gibt Interviews mit zwei Personen, die im Prinzip außerhalb stehen und die Branche eher beobachten: Eine Online-Redakteurin, die an den Messestand kommt, weil sie einen Vertreter der Firma sprechen möchte, und eine Praktikantin.
Der Roman formuliert eine Kritik am neoliberalen Ökonomiedenken und an den Technologien des Selbst, die damit einhergehen. Die Unternehmensberater funktionieren hier als symbolische Vertreter der neoliberalen Ideologie, sie sind eine Art gesellschaftlicher Peer-Group, sie vertreten in ihrem Sprechen die Werte und Rhetoriken und sie leben zugleich die dazugehörigen Realitäten. Als Stellverteter sind sie Gegenstand dieses Romans, d.h. es geht nicht um eine Außenperspektive auf einen eingrenzbaren wirtschaftlichen Bereich, sondern um ein gesamtgesellschaftliches Phänomen.
Der Neoliberalismus ist zum einen eine ideologische Rhetorik, er ist zum anderen eine polit-ökonomische Realität und er ist darüber hinausgehend ein politisches Projekt, denn er stellt eine soziale Realität her. Diese Realität wird in der Ideologie aber als bereits bestehende, also als Normalität vorausgesetzt. Kathrin Rögglas Version des Neoliberalismus – so wie er sich im Roman findet – lässt sich veranschaulichen, wenn man Michel Foucaults Überlegungen zur Gouvernementalität und zur Neudefinition des Verhältnisses von Staat und Ökonomie im 20. Jahrhundert heranzieht.
Ich rekapituliere kurz: Foucault begreift die Neudefinition des Verhältnisses von Staat und Ökonomie als Effekt von Regierungspraktiken, aber der Begriff der Regierung, des gouvernements, ist bei ihm in einem sehr allgemeinen Sinne als Anführen von anderen und als eine Weise des sich-Verhaltens zu verstehen. Hier gehen Herrschaftstechnologien und Selbsttechnologien Hand in Hand. Und der Begriff der Selbstrechnologien bezieht sich dabei nicht nur auf diziplinierende Eingriffe, sondern auch Freiheit und konsensuelle Handlungsformen sind in die Untersuchung von Machtverhältnissen einzubeziehen. Regierung, gouvernement, meint also nicht nur die Art und Weise, in der Menschen dazu gezwungen werden, etwas zu tun. Es geht hier vielmehr um Selbstentwürfe und Selbstkorrekturen – um Selbstdisziplin wenn Sie so wollen – mit deren Hilfe das Individuum sich dem gesellschaftlichen Druck anpasst. Nicht die Unterdrückung von Subjektivität ist Gegenstand von Foucaults Regierungsanalyse, sondern die Produktion von Subjektivität, also die Erfindung von Selbsttechnologien, die an bestimmte gesellschaftliche Ziele gekoppelt werden können.
In der neoliberalen Ideologie lässt sich das gut belegen: Hier sind Selbstbestimmung, Verantwortung und Wahlfreiheit Begriffe und Werte, die das Subjekt in seinem Verhältnis zu sich selbst und zu anderen verändern. In der Logik des Neoliberalismus ist es konstitutiv für ein freies und rationales Subjekt, anpassungsfähig zu sein, dynamisch, mobil, flexibel zu sein und Eigeninitiative zu zeigen. Die Nutzbarkeit für ökonomische Systeme wird dadurch gesichert, dass hier Autonomie, also Selbstverantwortung, an ökonomische Kriterien gebunden wird, denn es sind Effizienzkriterien und Unternehmens-Kalkül, nach denen die Subjekte ihr Leben ausrichten. Diese Vorstellungen von autonomer und effizienter Subjektivität werden zu gesellschaftlichen Leitbildern, sie werden zu einem gesamtgesellschaftlichen Phantasma – und für dieses Phantasma steht dann gerade die Branche der Unternehmensberater ein.
Der Roman von Kathrin Röggla übt hier Ideologiekritik, aber dies geschieht nicht über einen moralischen Diskurs. Es wird keine überlegene Außenposition präsentiert – wofür natürlich auch ein starker Erzähler einstehen würde. Der Roman entwirft keine autonomen Individuen, die in ihrem Handeln psychologisch motiviert werden und sich dann durch das Geschehen des Romans hindurchbewegen. (Es geht also nicht um eine Art kapitalistischen Realismus.)
Was der Roman jedoch tut, ist eine Arbeit an Formaten der Evidenz und an Rhetoriken. So wird das Dokumentarische, die Wirklichkeitsbehauptung, aufgerufen, aber als ein Gestus ausgestellt und mehrfach gebrochen. So fehlen schon die Fragen der Interviewerin, sie werden nicht dokumentiert und bleiben im Imaginären. Der Text fügt sich allein aus den Antworten zusammen, die deutlich als Antworten kenntlich bleiben.
Die Antworten der Figuren erscheinen zudem fast durchgängig in der Form des Konjunktivs. Nur einzelne Sätze stehen im Indikativ und werden durch Anführungszeichen als direkte Rede und gewissermaßen als ‘O-Ton-Zitat’ markiert. Der Konjunktiv indiziert hier, dass es sich bei der Figurenrede um eine indirekte, eine vermittelte Rede handelt. Doch bleibt diese Form der indirekten Rede elliptisch, da die Einbettung der konjunktivischen Aussage durch ein “er sagte” bzw. ein “sie sagte” fehlt.
Bsp. S.9:
ob das jetzt das interview sei? >>ist das jetzt das interview<<,
um das gebeten worden sei?ja, er sei herr gehringer, nur, er wolle da schon
sichergehen, daß er sozusagen beim richtigen termin
gelandet sei, nicht, daß ihm da einige dinge durcheinan-
derkämen. und er wüßte auch gerne, mit wem er es zu
tun habe, dann könne man ruhig mit den fragen los-
schießen –>>also schießen sie los!<<
ja, jetzt könne man anfangen, er sei bereit, er sei zu
allem bereit (lacht), na ja, zu fast allem (lacht).
Hier wird durch verschiedene Elemente der Eindruck von Mündlichkeit hervorgerufen: durch die kurzen Sätze, das Plötzliche, mit dem die Figurenrede einsetzt, also in der Frage “ob das jetzt das interview sei”, durch das Parataktische der Sätze und die verkürzten Einschübe “nur” bei “nur, er wolle da schon sichergehen” und “nicht” bei “nicht, daß ihm da einige dinge durcheinanderkämen” sowie durch die umgangssprachlichen Ausdrücke und Füllwörter, also “sozusagen”, “losschießen” und “beim richtigen termin landen” hervorgerufen.
Und es gibt in den Sätzen der Figur mehrere Bezugnahmen auf ein Gegenüber, wie “ja, er sei herr gehringer” und auch die anfängliche Frage “ob das jetzt das interview sei”, die die Aussagen als Antworten kennzeichnen und damit eine Gesprächssituation simulieren. Der Leerraum, der die einzelnen Sätze voneinander trennt, markiert den Ort und den Zeitpunkt, wo die Fragen der Interviewerin stehen müssten aber de facto nicht zu lesen sind. Das Gegenüber, die Interviewerin ist mit ihren Fragen zu supponieren, und zwar in den Leerstellen zwischen den Aussagen der Figur. Die Interviewerin erscheint also nur in den impliziten Bezugnahmen der Figuren und sie erscheint im Konjunktiv. Denn der Konjunktiv kann – ich wiederhole dies noch einmal – darauf verweisen, dass eine Rede berichtet wird, d.h. dass es jemanden gibt, der diese Rede wiedergibt. Aber wenn man den Konjunktiv im Sinne einer indirekten Rede interpretieren will, dann fehlt eine Einleitung oder Einbettung des Konjunktivs durch ein “ er sagte, er sei herr gehringer”.
Die Interviewform in diesem Roman ist also widersprüchlich, wenn nicht gar abgründig. Es wird Mündlichkeit und direkte Rede indiziert, aber im selben Moment auch Vermitteltheit und - im Prinzip - Schriftlichkeit, denn der Konjunktiv ist im Deutschen primär ein Element der Schriftkultur. Die Figurenrede in Kathrin Rögglas Roman oszilliert: Es entsteht zum einen der Eindruck von Evidenz, der Eindruck einer großen Nähe zu den Figuren, als ob der Leser ihnen direkt zuhören würde. Aber zugleich erinnert der Konjunktiv daran, dass in diesem intimen Dialog zwischen Leser und Figur noch jemand anwesend sein muss, eine Vermittlungs- und Erzählinstanz: diese Instanz ist die Interviewerin, die mit ihren imaginären Fragen, den Redefluss der Figuren antreibt.
Das Versprechen des dokumentarischen Formats, des Interviews, ist – im journalistischen Kontext – die Nähe zur Wirklichkeit. Im journalistischen Interview werden nicht nur Informationen geliefert, sondern diese Informationen werden durch die vermeintliche Anwesenheit der Person beglaubigt. Das Nicht-Vermittelte des Sprechens verleiht den Aussagen Evidenz. Zudem handelt es sich bei den Interviewten um Insider, d.h. Personen mit einem Spezialwissen oder einer typischen Funktion, und das verleiht den Aussagen Autorität und auch ein voyeuristisches Moment. Die Wirklichkeitsbehauptung des Interviewformats beruht also auf der Identität von Person und Rede und sie beruht darauf, dass eine Innenperspektive gegeben wird. Diese Verbindung von Evidenz der Rede und voyeuristischer Innenperspektive wirkt besonders überzeugend, sie ruft den Eindruck einer besonderen Nähe zur Wirklichkeit hervor. Das journalistische Interview lässt sich dann auch als Imaginationstechnik oder literarische Technik begreifen.
Genau das führt der Roman von Kathrin Röggla vor, und zwar indem er exakt diese Prinzipien aufruft und unterläuft. Denn die Autorin setzt sämtliche Interviews in den Konjunktiv. Die hiermit evoziert aber literarisch gebrochene Mündlichkeit und die Ich-Perspektive der Figurenrede haben gleichwohl eine immersive Wirkung auf den Leser. Diese Immersion wird zwar durch den Konjunktiv gestört, aber die elliptische Form lässt dem Leser einen Freiraum, sie lässt ihm die Wahl, wie er in den Text eintreten möchte, d.h. ob er allein der Innenperspektive folgen und gewissermaßen von innerem Monolog zu innerem Monolog surfen möchte. Das Oszillieren dieser konjunktivischen Interviews zwischen direkter und indirekter Rede erinnert an das literarische Erzählverfahren der erlebten Rede, bzw. auf französisch, des style indirect libre. Dieses Erzählverfahren ist eine Evolution der Schriftsprache und besonders des Literatursystems, und insofern ist sie eine artifizielle Form. Bei der erlebten Rede werden in das Erzählpräteritum, deiktische Verweise eingefügt, die sich auf die Gegenwart beziehen und nur aus einer Ich-Perspektive erfolgen können.
Die Indizierung einer Innenperspektive kann durch emphatische Sätze, die Ausrufen gleichen, geschehen. Nach diesen Ausrufen lassen sich dann auch die Sätze im Umfeld dieser Perspektive zuordnen. Das findet sich z.B. im style indirect libre von Gustave Flaubert.
Beispielsatz:
Hier ein Beispiel aus der Conte “Hérodias” von Flaubert. Herodias ist besorgt, dass ihr Mann sie verstoßen könnte:
“Sie befaßte sich auch mit dem Gedanken, daß der Tetrarach unter dem Druck der öffentlichen Meinung vielleicht darauf verfallen könnte, sie zu verstoßen. Dann wäre alles verloren! Seit ihrer Kindheit nährte sie den Traum von einem großen Reich.”
“Elle songeait aussi que le Tétrarque, cédant à l’opinion, s’aviserait peut-être de la répudier. Alors tout serait perdu! Depuis son enfance, elle nourrissait le rêve d’un grand empire.”
Die erlebte Rede oder style indirect libre kann den Eindruck von großer Nähe zu den Figuren erzeugen – der Leser flutet im Erzählstrom von Figurenperspektive zu Figurenperspektive und bekommt alles Geschehen, sei es Handlung oder Landschaft oder Reflexion, durch die subjektive Wahrnehmung der Figuren dargeboten. In letzter Konsequenz hat der Leser die Illusion, im Bild zu sein und zwar in einem besonders realistischen Bild, das die Figuren scheinbar für sich selbst sprechen lässt und wo der Erzähler nurmehr als abstrakter Apparat, also unmerklich anwesend ist. Es ist also eine halluzinogene Technik, die ihre eigene Artifizialität, ihre widersprüchliche Konstruktion und d.h. auch ihre mediale Ebene ausblendet.
Es gibt also im Fall der erlebten Rede eine kontrastive Spannung zwischen der halluzinativen Nähe zu den Figuren und den distanzierenden Elementen, und beides ist ein Effekt der Erzähltechnik und ein Effekt der hybriden grammatischen Form. Und Kathrin Rögglas konjunktivische Interviews haben eine ähnlich doppeldeutige Wirkung, denn die Sprechsituation erzeugt – trotz des Konjunktivs – den Eindruck von Unmittelbarkeit. Die Figuren sind in diesem Fall allerdings nicht gleichmäßig präsent, denn durch die markierten Sätze in der direkten Rede, also die vermeintlichen O-Ton-Zitate, die in den Konjunktiv eingelassen sind, hat man den Eindruck, dass die Figuren vor und zurück faden, d.h. dass sie für eine kurze Sekunde noch eindringlicher werden. Diese Wirkung ist der Effekt einer Imaginationstechnik, die sich an eine Tradition literarischer Techniken anschließen lässt. Deutlicher noch als bei den konjunktivischen Interviews lässt sich die literarische Tradition an den Stellen wiederfinden, die Dialog in der Tradition des Romans wiedergeben. Diese Stellen reihen relativ kurze Statements untereinander und werden jeweils durch einen Gedankenstrich eingeleitet, was einen Wechsel des Sprechers ankündigt. Die Sätze antworten aufeinander, es geht an diesen Stellen um einen Dialog, der zwischen den Figuren stattfindet.
Beispiel, S. 21 :
noch einmal sage er: man könne nicht vorschlafen, das
sei seine meinung. also, wenn man ihn fragen würde,
dann müsse er sagen, praktisch ein ding der unmög-
lichkeit, der körper speichere schlaf nicht, er speichere
alles mögliche, aber schlaf, das schaffe er nicht. man
müsse sich eben nach anderen möglichkeiten umsehen –- vielleicht ein nickerchen zwischendurch?
- oder minutenschlaf!
- am bürotisch!
- oder schlafen in geparkten autos, auch schon gemacht:
in tiefgaragen, in parkhäusern.
manche sagen ja, sie schliefen im stehen, doch das hat er
noch nie gesehen –
- also sie hat sich angewöhnt, sich beim fliegen eine
stunde killerschlaf zu holen. und wenn tage superheftig
waren, hat sie sich manchmal in irgendein büro zurück-
gezogen und nur kurz zehn, fünfzehn minuten die augen
zugemacht.
- jeder kennt das doch, man sagt dann: ich geh mal
frische luft schnappen, in wirklichkeit geht man nur drei
räume weiter, setzt sich auf einen leeren bürostuhl und
knackt dann einfach mal zehn minuten weg.
- klar, wir sind doch alle nur menschen!
- aber sag das mal jemandem auf den kopf zu!
Es wird kein Bezug auf die Interviewerin genommen, es ist gewissermaßen als ob das Tonband weiterläuft, aber keine explizite Interview-Situation mehr gegeben ist und die Figuren die Anwesenheit der Interviewerin für einen Moment völlig vergessen haben. Und für dieses Vergessen der Interviewerin spricht, dass die Figuren nicht im Konjunktiv sondern im Indikativ reden. Es wird also nicht auf eine berichtete Rede verwiesen, sondern ein Dialog simuliert. In diesem Dialog sprechen die Figuren jedoch befremdlicherweise von sich selbst in der 3. Person. Eine solche schizophrene Form erinnert wiederum an die erlebte Rede, aber auch hier fehlt etwas, die Einbettung durch ein Erzählpräteritum.
Bei diesen Erzählverfahren Rögglas – also sowohl beim konjunktivischen Interview wie bei der Imitation von Dialog – ist es die Nähe zu einer literarischen Tradition, die deutlicht macht, dass es sich hier um Imaginationstechniken handelt und dass der Roman also Dokumentarizität als Geste ausstellt.
Das Dokumentarische im Roman von Kathrin Röggla bleibt eine Behauptung, die von dem Interviewformat aufgerufen und v.a. durch den Konjunktiv gestört wird. Das Dokumentarische als Verfahren prägt jedoch ihre Arbeitsweise. Sie hat für den Roman über 30 Interviews mit Vertretern der Consulting-Branche und angrenzender Bereiche geführt. Dieses Redematerial hat die Autorin zunächst nach Motiven geordnet, woraus sich die Kapitel des Romans ergeben, die unterschiedliche Aspekte eines solchen Arbeitslebens fokusieren: den Ablauf der Messe, die Organisationsstrukturen der Unternehmen, die Einstiegs- und Aufstiegsszenarien, das Leben auf Reisen, in Hotels und Flugzeugen, die überbordenden Arbeitszeiten, das fehlende Privatleben, der Anpassungsdruck, der Konkurrenzdruck, die Angst vor der Arbeitslosigkeit, die physischen und psychischen Nebenwirkungen des Stresses. Die große Zahl der Interviewten hat Kathrin Röggla in sechs exemplarische Stimmen und berufliche Funktionen übersetzt. Diese Figuren funktionieren nicht wie Romanhelden, also wie psychologisch differenzierte Individuen. Sie repräsentieren eher Typen, treten vor allem durch bestimmte sich wiederholende Geschichten oder Eigenheiten hervor und lassen sich am ehesten als Sprach-Samples charakterisieren. Denn die Autorin hat die gesammelten Aussagen zugespitzt und das Sprechen durch emphatische Wiederholungen rhythmisiert, und das geht dann bis zu einer Hysterisierung des Sprechens.
Beispiel, S. 20 : (Beispiel vom Anfang) die key account managerin
>>es ist 16.30!<< das werde man doch mal aussprechen dür-
fen – nein? dürfe man nicht? >>ist gut.<< sie rede schon von
was anderem weiter, sie rede gleich von anderen dingen
weiter, sie hätte sich nur gerne einen moment lang in
dem gedanken gesonnt, daß jetzt eben eine uhrzeit sei,
die traditionellerweise den späteren tageszeiten zuzuord-
nen wäre, auch wenn das hier nicht von bedeutung
scheine, auch wenn man hier auf alles pfeife: tageszeiten,
müdigkeiten, feierabend. sie habe schon verstanden, ja,
ja.
(Beschreibung:) Absurdität des Sprechens und atemloses, von Redundanzen gekennzeichnetes Sprechen – man kann die Wiederholungen im Roman gleichermaßen psychologisieren, also den Figuren zuschreiben, wie als formale sprachliche Gestaltung lesen, d.h. als rhythmische Strukturierung des Textes, als ‘sound’ der Autorin.
Kathrin Röggla beschreibt in “wir schlafen nicht” wirtschaftliche und gesellschaftliche Zusammenhänge, ohne daraus ein Skandalon zu gewinnen. Der Roman erzählt keine sex-and-crime-Geschichten, sondern bleibt in der Alltäglichkeit des Arbeitserlebens. Die Figuren berichten von Entlassungen - das ist ihnen näher als die Geschichte der Key Account Managerin von dem Porno-Hotel. Diese vergleichsweise aufregende Geschichte wird deshalb in einem Kapitel mit dem Titel “märchen erzählen” präsentiert.
Den sex-and-crime-Geschichten würde eine Dynamik eignen, die über Aufregung und Enthüllung auch eine Positionierung auf der richtigen Seite, der kritischen Gegenseite ermöglicht. Denn der Auslöser der Aufregung wäre ja identifizierbar, wäre eben ein Skandalon. Doch in diesem Roman ist das eigentliche Skandalon, dass es für die Figuren kein Skandalon gibt. So unerträglich der Arbeitsalltag erscheint, von dem sie berichten – keine der Figuren regt sich darüber auf. Und auch die Interviewerin - ein fiktives Double der Autorin - formuliert keine dezidiert kritische Position. Der Roman etabliert keine Außenposition, er ermöglicht keinerlei Solidarität mit einer der Figuren. Stattdessen erzeugt er einen Überdruck, der gerade daraus entsteht, dass es keinen sichtbaren Gegner und ebenso keine sichtbaren Verbündeten gibt, aber der Leser dennoch unablässig den Eindruck hat, auf einem Kampfschauplatz zu stehen. Es gibt niemanden, der verantwortlich ist, also der z.B. von den Figuren verantwortlich gemacht wird, und diese Unbestimmtheit ist beunruhigend, ist also das eigentliche Skandalon im Roman. Dieses in die Normalität und Alltäglichkeit eingeschriebene und insofern strukturelle Skandalon erzeugt Agressionen beim Leser, denn der Roman lässt ihn damit im Grunde allein. Diese Agression lässt sich im übrigen auch in den Kritiken zum Roman wiederfinden, wenn auch unreflektiert – der Roman provoziert sehr stark und man kann sich fragen, warum? Ich denke, die Provokation gründet darin, dass der Roman eine abstrakte, eine strukturelle Gewalt evoziert, die weder von den Figuren noch von der Interviewerin als solche identifiziert wird, und aus der auch der Leser keinen Ausweg findet, keine Außenposition – außer er formuliert sie selbst, d.h. er geht selbst in die Position der Kritik.
Die Ideologiekritik von Kathrin Röggla ist vor allem Sprachkritik, sie ist eine Arbeit an den Rhetoriken. Und die von ihr entwickelte Form des konjunktivischen Interviews ist ein Instrument dieser Kritik.
Der Konjunktiv kann dies leisten, indem er die Präsenz der Redesituation, die Evidenz des Sprechens stört und eine seltsam an- und abwesende Vermittlungsinstanz ins Spiel bringt. Die Interviewerin ist mit ihren imaginären Fragen eine unheimliche Instanz, sie treibt das Sprechen der Figuren an, ohne selbst Position zu beziehen. Erst am Ende, in einem letzten Kapitel, fängt sie an zu sprechen, und dies explizit im Indikativ. Die Figuren sind an dieser Stelle abwesend, es heißt ausdrücklich: “das würden sie jetzt sagen”. Der Titel des Kapitels, “wiederbelebung (ich)”, betont die vorherige Unsichtbarkeit der Interviewerin und er betont die Unmöglichkeit einer Außenperspektive in der Interviewsituation. Die Position der Interviewerin in den konjunktivischen Interviews ist demzufolge eine neutrale oder sogar eine affirmative – das würde zumindest den intimen Charakter dieser Gespräche erklären: Die Figuren sprechen zunehmend, als hätten sie die Interviewerin vergessen, sie sprechen für sich selbst und doch für eine unsichtbare Instanz, es ist eine Sprechsituation wie in der Beichte oder Psychotherapie.
Das abschließende Kapitel “wiederbelebung (ich)” verweist auf die Erzählinstanz, auf die Interviewerin. Und es etabliert zum ersten Mal im Roman explizit eine Grenze zwischen Indikativ und Konjunktiv, da die Interviewerin im Indikativ spricht und der Konjunktiv nur in diesen eingelagert erscheint. Das ist konsequent, da die Rede der Interviewerin nicht durch eine weitere Vermittlungsinstanz gebrochen wird. Diese Errichtung einer Grenze zwischen Indikativ und Konjunktiv hat aber noch eine weitergehende Bedeutung. Die konjunktivischen Interviews, aus denen das Buch vorwiegend besteht, präsentieren den Konjunktiv ohne eine solche Rahmung durch den Indikativ. (Es gibt zwar den Indikativ der Dialoge, aber diese sind dadurch, dass die Figuren von sich selbst in der 3. Person reden, in sich gebrochen und der erlebten Rede angenähert.)
Wenn aber diese Grenze zwischen Indikativ und Konjunktiv nicht etabliert wird, dann wird eine Bedeutungsebene des Konjunktivs beherrschend, von der ich bisher nicht gesprochen habe, und die mehr impliziert die Distanz der indirekten Rede.
Der deutsche Konjunktiv kann zum einen die indirekte Rede anzeigen, d.h. er indiziert, dass etwas berichtet wird, die Rede eines Abwesenden. Der Konjunktiv kann aber auch sehr viel genereller eine Relativierung des zum Ausdruck gebrachten Sachverhaltes ausdrücken. In diesen Fällen funktioniert der Konjunktiv in Abgrenzung zum Indikativ und färbt alles Gesagte mit einem Moment des Irrealen ein. Die Linguistik spricht hier von Irrealis und das bedeutet, dass alles, was im Konjunktiv gesagt wird, immer bereits als ‘nicht-faktisch’ gekennzeichnet ist. (Das unterscheidet den Konjunktiv z.B. von der würde-Form, die einen Möglichkeitsraum evozieren kann.) Dieses Irrealis-Moment lässt sich auf einer pragmatischen Ebene als subjektive Haltung des Sprechers zu dem, was er sagt oder berichtet, interpretieren, d.h. man kann dann im Konjunktiv Wunsch, Zweifel oder Distanz des Sprechers erkennen. Aber in jedem Fall: der Konjunktiv impliziert keine Wirklichkeitsbehauptung mehr, sondern rückt das Gesagte in einen unbestimmten, einen nicht-faktischen Raum. Und wenn die konjunktivischen Interviews – im Unterschied zum Schlußkapitel – keine sichere Grenze zwischen Indikativ und Konjunktiv etablieren, dann wird alles Gesagte von diesem Irrealis infiziert, alles wird fragwürdig oder Ausdruck eines Wunschdenkens.
Im konjunktivischen Sprechen tritt also etwas zwischen die Figuren und ihre Rede , und dies in zweifacher Hinsicht: Zum einen gibt es eine unheimliche Vermittlungsinstanz, die die die Identität von Figur und Rede stört. Zum anderen scheinen die Figuren ganz generell von der Möglichkeit, wahre Aussagen über sich selbst zu treffen, abgespalten. Ihre Aussagen bewegen sich im Nicht-Faktischen, im Fiktiven. Und das ist der Moment, wo die Rhetoriken in sich zusammenfallen oder hohl werden. Was in den Interviews transportiert wird, ist dann weniger ein Inhalt als der Drang der Figuren zu reden und es ist vor allem das Prekäre ihres Sprechens.
Und genau diese Nicht-Identität von Figur und Rede, darüber sprechen die Figuren auch selbst. Beispiel, S. 142
die key account managerin : ob sie sich verändert habe?
natürlich habe sie sich verändert, natürlich passe man
sich an, wenn man so einen professionalisierungsprozeß
durchlaufen habe. da verändere man sich schon. so was
mache ja vor einem nicht halt, so ein berufsalltag. und mit-
fiebern müsse schon sein, etwas mitfiebern mit dem eige-
nen betrieb. da werde heute keine vollidentifikation mehr
verlangt, aber ein wenig mitfiebern müsse schon sein,
wie man wisse.>>sehen sie, man verdoppelt sich ja mal schnell in einer
pose, man hat ja auch selbstironie zur verfügung<<, ja, die
sei bei jedem einzelnen ihrer kollegen intakt. die könnten
schon ganz gut über sich lachen, die könnten sich durch-
aus auch mal von außen sehen, und das müßten sie auch.
die müßten sich ja auch alles anziehen können, das sei ja
ihr job, positionen einzunehmen und wieder zu re-
lativieren. aber andererseits müßten sie auf den positio-
nen auch wirklich vorhanden sein, kurz, man müsse
daran glauben, >>wo man gerade ist.<<>>es ist wie am telefon: man glaubt selber, was man
redet, weil man spricht ja durch den apparat.<< und eines
könne sie sagen: diese telefongespräche häuften sich!
Apparat ist hier doppelt zu lesen, es ist der ‘Apparat’ des Neoliberalismus, es ist aber auch der ‘Apparat’ des Romans: das Tonband der Interviewerin ebenso wie die Sprachartistik Kathrin Rögglas.
Es sind die literarischen Inventionen in den Redefluss, in denen im Roman Kritik am Neoliberalismus sichtbar wird. Es ist der Konjunktiv und die Hysterisierung des Sprechens, die die Entfremdung der Figuren sprachlich zum Ausdruck bringen. Und es ist die fiktive Entwicklung, die der Roman setzt, in der – und das dann schon überexplizit – inszeniert wird, was die neoliberale Vorstellung von Selbstverantwortung verdrängt. Die Figuren geraten durch den Roman hindurch leise und doch zunehmend in einen Ausnahmezustand, sie enthüllen sich selbst als “gespenster”, bis sie im Kapitel “erinnerung” sehr konkret eine Bestätigung der Unheimlichkeit vorfinden. Es ist das Kapitel, in dem die Figuren sich aus der Gegenwart der Messe entfernen, sie erinnern sich an eine Szene in ihrem Bürohaus, wo jeder für sich, von der Umwelt isoliert auftaucht. Zum ersten Mal im Roman werden hier visuelle Wahrnehmungen thematisiert, die Figuren sehen ihre Umgebung und sie sehen schließlich, diffus am Boden, einen toten Körper liegen. Die Tote ist – ohne große interpretatorische Anstrengung – als Bild einer Todesverdrängung zu lesen, und zwar jener Todesverdängung, die die Arbeitssucht und das Entfremdete der Figuren ausmacht. Der Roman wird hier überdeutlich und auch dies stellt er aus – ging es zuvor um eine Behauptung der Dokumentarischen, dann geht es jetzt um eine Behauptung des Fiktiven.
Das Kapitel “erinnerung” markiert den Höhepunkt der romaninternen Fiktionsentwicklung. Es unterbricht den Dokumentargestus, indem es offenkundig ein fiktives Szenario präsentiert, das Zitate aus Zombie-Filmen und Literatur vereint. (Heiner Müller: Der Auftrag)
Wenn man von diesem Kapitel aus zurückblickt, dann scheint die Interviewerin selbst eine Figur aus dem Zombie-Mythos zu sein. Sie wird zur Fürstin aus der Unterwelt, die wie in dem Mythos die Toten aus den Gräbern holt und für sich arbeiten lässt. Die Interviewerin lässt die Untoten – im Roman heißen sie ‘gespenster’ – für sich arbeiten, bis diese streiken. In dem Kapitel “streik” verweigern die Figuren ihre Rolle als Untote, sie geben keine Auskunft mehr und werden – so lässt sich vermuten – in ihre Gräber zurückzukehren. Die Kraft der Fiktion, wie sie in diesem Roman auftaucht, entwirft keine Utopien. Sie ist eine Kraft der Übertreibung, der manchmal karnevalesken und manchmal apokalyptischen Überbietung. Die phantasmatische Normalität darf in der fiktionalen Behauptung des Romans zu sich selbst kommen, bevor in dem abschließenden Kapitel “wiederbelebung (ich)” die grammatische Ordnung wiederhergestellt und der Konjunktiv in seine Schranken verwiesen wird.
Kathrin Röggla: wir schlafen nicht
Roman, Frankfurt am Main 2004
Zitat S.9:
ob das jetzt das interview sei? >>ist das jetzt das interview<<,
um das gebeten worden sei?ja, er sei herr gehringer, nur, er wolle da schon
sichergehen, daß er sozusagen beim richtigen termin
gelandet sei, nicht, daß ihm da einige dinge durcheinan-
derkämen. und er wüßte auch gerne, mit wem er es zu
tun habe, dann könne man ruhig mit den fragen los-
schießen –>>also schießen sie los!<<
ja, jetzt könne man anfangen, er sei bereit, er sei zu
allem bereit (lacht), na ja, zu fast allem (lacht).
Zitat S. 21:
noch einmal sage er: man könne nicht vorschlafen, das
sei seine meinung. also, wenn man ihn fragen würde,
dann müsse er sagen, praktisch ein ding der unmög-
lichkeit, der körper speichere schlaf nicht, er speichere
alles mögliche, aber schlaf, das schaffe er nicht. man
müsse sich eben nach anderen möglichkeiten umsehen –- vielleicht ein nickerchen zwischendurch?
- oder der minutenschlaf!
- am bürotisch!
- oder schlafen in geparkten autos, auch schon gemacht:
in tiefgaragen, in parkhäusern.
manche sagen ja, sie schliefen im stehen, doch das hat er
noch nie gesehen –
- also sie hat sich angewöhnt, sich beim fliegen eine
stunde killerschlaf zu holen. und wenn tage superheftig
waren, hat sie sich manchmal in irgendein büro zurück-
gezogen und nur kurz zehn, fünfzehn minuten die augen
zugemacht.
- jeder kennt das doch, man sagt dann: ich geh mal
frische luft schnappen, in wirklichkeit geht man nur drei
räume weiter, setzt sich auf einen leeren bürostuhl und
knackt dann einfach mal zehn minuten weg.
- klar, wir sind doch alle nur menschen!
- aber sag das mal jemandem auf den kopf zu!
Zitat S. 20:
>>es ist 16.30!<< das werde man doch mal aussprechen dür-
fen – nein? dürfe man nicht? >>ist gut.<< sie rede schon von
was anderem weiter, sie rede gleich von anderen dingen
weiter, sie hätte sich nur gerne einen moment lang in
dem gedanken gesonnt, daß jetzt eben eine uhrzeit sei,
die traditionellerweise den späteren tageszeiten zuzuord-
nen wäre, auch wenn das hier nicht von bedeutung
scheine, auch wenn man hier auf alles pfeife: tageszeiten,
müdigkeiten, feierabend. sie habe schon verstanden, ja,
ja.
Zitat S. 142:
die key account managerin : ob sie sich verändert habe?
natürlich habe sie sich verändert, natürlich passe man
sich an, wenn man so einen professionalisierungsprozeß
durchlaufen habe. da verändere man sich schon. so was
mache ja vor einem nicht halt, so ein berufsalltag. und mit-
fiebern müsse schon sein, etwas mitfiebern mit dem eige-
nen betrieb. da werde heute keine vollidentifikation mehr
verlangt, aber ein wenig mitfiebern müsse schon sein,
wie man wisse.>>sehen sie, man verdoppelt sich ja mal schnell in einer
pose, man hat ja auch selbstironie zur verfügung<<, ja, die
sei bei jedem einzelnen ihrer kollegen intakt. die könnten
schon ganz gut über sich lachen, die könnten sich durch-
aus auch mal von außen sehen, und das müßten sie auch.
die müßten sich ja auch alles anziehen können, das sei ja
ihr job, positionen einzunehmen und wieder zu re-
lativieren. aber andererseits müßten sie auf den positio-
nen auch wirklich vorhanden sein, kurz, man müsse
daran glauben, >>wo man gerade ist.<<>>es ist wie am telefon: man glaubt selber, was man
redet, weil man spricht ja durch den apparat.<< und eines
könne sie sagen: diese telefongespräche häuften sich!